Während die Bundesliga langweiliger kaum sein könnte, gab es in England in den vergangenen zwei Wochen drei Spiele, die zu den dramatischsten der Fußballgeschichte gehören. Ein Rückblick.
Als die 90. Minute anbrach, stand es 1:2. Manchester City benötigte gegen die Queens Park Rangers noch zwei Tore! Zwei verdammte Tore! Denn Manchester United, vor diesem letzten Spieltag Zweiter, führte zeitgleich 1:0 beim AFC Sunderland. Wer glaubte noch an das Wunder?
Einige City-Fans hatten schon das Stadion verlassen, andere standen mit dem Rücken zum Spiel, sie konnten die Schmach nicht ertragen. Wieder einmal hatte der große Lokalrivale sie gedemütigt. Seit 44 Jahren ging das so. Seit 1968, als die Citizens zum letzten Mal englischer Meister geworden waren.
„Fußball ist unglaublich!“
Doch dann ein Hoffnungsschimmer. In der 91. Minute, als alles vorbei schien, traf Edin Dzeko zum 2:2. Noch ein Tor, ein Törchen, was war noch möglich?
Dann, zwei Minuten später, das Unfassbare: Sergio Aguero am Ball, Doppelpass mit Mario Balotelli, ein Schuss, Tor, 3:2. Die Dämme brachen. Man sah Spieler, die irgendwohin rannten. Ein Trainer, der im Kreis hüpfte. Fans, die so laut schrien, wie sie noch nie zuvor geschrien hatten. „Fußball!“, japste City-Coach Roberto Mancini. „Fußball ist unglaublich!“
Das war vor einem Jahr. Und man war sich tatsächlich sicher, dass Fußball niemals wieder so unglaublich werden könnte.
Bis zum Mai 2013. Bis es innerhalb von zwei Wochen drei Spiele gab, die eine Dramatik hatten, die dem Premier-League-Saisonfinale 2012 in nichts nachstanden.
Aber der Reihe nach.
Am 27. April treffen zunächst der FC Brentford und Doncaster Rover aufeinander. Dritter gegen Zweiter, League One. Gewinnt Brentford, steigt die Mannschaft direkt in die Championship-Liga (Zweite Liga) auf. Bei Unentschieden oder Niederlage ist Doncaster durch.
Am Ende der regulären Spielzeit steht es immer noch 0:0, doch Schiedsrichter Michael Oliver denkt nicht daran, die Partie abzupfeifen. Er lässt nachspielen. Und wie. 91., 92., 93. Minute, Uwe Rösler, Brentfords Trainer, peitscht seine Spieler nach vorne. Da muss doch noch was gehen!
Und ja, da geht noch was. 95. Minute, Doncasters Strafraum, eine Hand dort, wo sie nicht hingehört. Oliver zeigt auf den Punkt. Jubel.
Marcello Trotta nimmt sich den Ball und legt ihn auf den Punkt. Dann zimmert er ihn mit Vollspann aufs Tor.
Unterlatte. Durcheinander. Verzweiflung. Der Ball ist nicht im Tor – und das Spiel noch nicht zu Ende. Irgendwie landet der Ball umgehend bei Doncasters Billy Paynter, rechte Außenbahn. Paynter sprintet auf Brentfords Tor zu, spielt ab auf James Coppinger, der den Ball ins Tor drückt.
Ein Wechselbad der Gefühle?
Von einem „Wechselbad der Gefühle“ schreibt eine englische Zeitung danach. Ein Wechselbad der Gefühle? Man hat in diesem Moment das Gefühl, dass der Griffin Park jeden Moment im Erdboden verschwindet. Rösler steht nach dem Spiel vor einem Reporter und sagt: „Es ist schwierig, Worte dafür zu finden.“
Weiter geht es am 4. Mai, letzter Spieltag der Championship. Hier kämpfen Hull City und der FC Watford um den Aufstieg. Hull benötigt Punkte gegen Cardiff City, muss aber gleichzeitig auf einer Niederlage von Watford im Spiel gegen Leeds United hoffen.
Auch in Hull lässt der Schiedsrichter, Keith Stroud, lange nachspielen. Und auch hier zeigt er kurz vor Schluss auf den Elfmeterpunkt.
Hull City führt zu diesem Zeitpunkt 2:1, ein Ergebnis das sicher für den Aufstieg reicht. Nun kann Nick Proschwitz, ehemals Stürmer beim SC Paderborn, alles klar machen. Er legt den Ball auf den Punkt, läuft an, ein bisschen lässig vielleicht, und schiebt den Ball halbhoch auf die rechte Ecke. Cardiffs Keeper David Marshall ist unten – und hält.
Durchatmen. Es steht immer noch 2:1.
Doch das Spiel ist längst nicht zu Ende. Und dann zeigt Stroud noch einmal auf den Punkt, dieses Mal gibt es Elfmeter für Cardiff City. In der 95. Minute. Nicky Maynard trifft zum 2:2.
„Wir waren am Ende.“
„Wir waren am Ende. Wir wussten ja nicht, wie es bei Watford stand“, sagte Proschwitz später. Er hatte zwischenzeitlich, in der 58. Minute, zum 1:1 getroffen, und nun drohte er, der Depp von Hull werden.
Seine Mannschaft liegt nach dem Abpfiff zwar immer noch einen Punkt vor Watford, deren Spiel gegen Leeds läuft allerdings noch 15 Minuten. Die Spieler von Hull City versammeln sich in den Katakomben. Sie umarmen sich und kleben vor dem Fernseher. In der 90. Minute erlöst sie Leeds’ Ross McCormack. Er schießt das 2:1 und Hull City ist zurück in der Premier League.
Am 12. Mai muss das geschlagene Watford in den Championship-Playoffs zum Rückspiel gegen Leicester City ran. Das Hinspiel gewann Leicester mit 1:0, im Rückspiel steht es nach der regulären Spielzeit 2:1 für Watford – es riecht nach Verlängerung.
Doch Schiedsrichter Michael Oliver, der schon beim Spiel Brentford gegen Doncaster auf dem Platz stand, hat wieder einmal Freude am Spiel und wieder einmal pfeift er Elfmeter in der Nachspielzeit, als Leicesters Antony Knockaert in der 95. Minute im Strafraum fällt: „Eine mutige Entscheidung!“, japst der Sky-Kommentator. „Eine große Entscheidung!“
Der Gefoulte schießt selbst. Und Manuel Almunia, ehemals FC Arsenal, pariert. Knockaert versucht sich mit einem Nachschuss aus zwei Metern Torentfernung – doch auch den hält Almunia.
Troy Deeney saß zu Saisonbeginn noch im Gefängnis
Danach ein Befreiungsschlag, er landet auf der rechten Seite, der Italiener Fernando Forestieri führt den Ball, bringt die Flanke, Kopfballablage Jonathan Hogg, Schuss Troy Deeney, Tor. 3:1. Dogg reißt sich das Trikot vom Leib, sprintet direkt zu den Fans, hüpft in die Ränge und dreißig Sekunden später rennen die Anhänger auf den Rasen.
Gianfranco Zola, Watfords Trainer, sprintet hinterher und verliert seine Schuhe. Später sagt er: „Ich dachte an den Film Brentford gegen Doncaster. Besonders freut es mit für Troy.“ Jener Troy Deeley hatte den Saisonbeginn verpasst, denn er saß bis September 2012 eine Haftstrafe wegen einer Schlägerei ab. Nach dem Triumph gegen Leicester sagt er: „Ich könnte weinen. It’s heart-breaking!“
Drei Spiele, für die man gerne das Wort „Jahrhundertspiel“ verwendet, die in irgendwelchen Best-Of-Listen auftauchen, über die bald schon TV-Experten und Ex-Fußballgrößen erzählen, als hätten sie am Spielfeld gestanden. Und dann diese Mannschaften, die jahrelang unter dem medialen Radar spielten. Man darf gespannt sein, wann das erste TV-Sternchen sein Sonic-Youth-Designer-Shirt mit einem Watford- oder Hull-City-Pin dekoriert.
Doch die Saison ist noch nicht vorbei. Heute Abend treffen im zweiten Playoff-Halbfinale der Championship-Liga Brighton & Hove Albion und Crystal Palace aufeinander. Das Hinspiel ging 0:0 aus. Sagt nicht, wir hätten euch nicht Bescheid gesagt.