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Seite 4: Aus der finsteren Tiefe des Raumes

Pirlo muss kein mühsam gebas­teltes Image pflegen, er hat eine Aura. Zwar strahlt sie nicht, sie fluo­res­ziert eher im Dun­keln, den­noch hebt sie ihn aus der Masse der bubi­haften Rekla­me­ge­sichter heraus und stellt ihn in eine Reihe mit den großen Fremden dieses Sports wie etwa Johan Cruyff, Eric Can­tona und Zine­dine Zidane – Män­nern also, die, so berühmt sie auch waren, doch seltsam unbe­kannt blieben. Über Pirlo weiß man nicht viel mehr, als dass er gern Wein trinkt und seit kurzem mit einer jungen Freundin bum­meln geht. Papa­razzi schaut er sekun­den­lang direkt in die Augen, aller­dings durch eine undurch­dring­liche Son­nen­brille. Selbst auf diesen Pres­se­bil­dern ist seine Aura zu sehen.

Neben ihm wirkt selbst Zlatan wie ein Teenie

Man muss keine Klatsch­ma­ga­zine lesen“, sagt er. Man sollte besser etwas anderes lesen.“ Eine ziem­lich nahe­lie­gende Aus­sage, die aus seinem Munde jedoch klingt wie ein Mene­tekel. Pirlo ist mehr als Pirlo, er ist immer auch die fins­tere Tiefe des Raums, aus der er kommt. Der stoi­zis­ti­sche Mit­tel­feld­phi­lo­soph, der mit einem Schweigen mehr sagt als andere in tau­send Field­in­ter­views. Neben ihm wirkt sogar Zlatan Ibra­hi­movic mit­unter wie ein auf­ge­kratzter Teenie, der auf You­tube Beau­ty­tipps in die Welt posaunt.

Wen man nicht durch­schaut, dem traut man alles zu. Das war der Nimbus, mit dem Andrea Pirlo und seine glor­rei­chen Halunken zum Finale nach Berlin reisten. Ein 36-jäh­riger Schlei­cher soll den FC Bar­ce­lona Lionel Messis schlagen? Warum denn nicht. Solange Pirlo sich nicht beein­druckt zeigte, schien alles mög­lich.

Ein Bild von seiner Lan­dung am Flug­hafen Tegel ging um die Welt: Er schritt über das Roll­feld und schaute in die Kamera, als würde nicht sie das Foto machen, son­dern er mit seinen Augen – natür­lich nur, um es sofort wieder zu löschen. Nicht einmal der spie­ßige Roll­koffer, den er hinter sich her zog, konnte den Ein­druck seiner läs­sigen Erha­ben­heit schmä­lern.

Pirlo in Berlin! Erin­ne­rungen an Elvis und John F. Ken­nedy

Und wie so oft bei sol­chen Ankünften, ob bei Elvis Pres­leys in Bre­mer­haven 1958 oder John F. Ken­nedys in Berlin 1963, überkam die Schau­lus­tigen am Flug­hafen Tegel der Schock der Gleich­zei­tig­keit des Unver­ein­baren: Andrea Pirlo befand sich tat­säch­lich in der der­selben Stadt wie sie selbst. Was würde das mit ihnen machen? Mit allen anderen, die jemals gegen einen Ball getreten haben? Also auch mit Lionel Messi? Der war etwa zur glei­chen Zeit im Jeans­hemd dem Barça-Flieger ent­stiegen und hatte wieder mal ein biss­chen so aus­ge­sehen wie ein 16-jäh­riger Aus­tausch­schüler – und erschien nun, für die etwa 30 Stunden, die er bis zum Anstoß am selben Ort weilte wie Andrea Pirlo, durchaus besiegbar. Zumal in dem Sta­dion, in dem dieser Pirlo neun Jahre zuvor, am anderen Ende der Tiefe des Raumes, Welt­meister geworden war.

Pirlos psy­cho­lo­gi­scher Sieg, kraft seiner Aura alle ver­nünf­tigen Pro­gnosen durch­ein­an­der­zu­wir­beln, dass näm­lich der super­fri­sche FC Bar­ce­lona dieses End­spiel gegen das über­al­terte Juven­tus Turin klar gewinnen würde, folgte die klare Nie­der­lage auf dem Platz. Er selbst wirkte dabei wie ein Mann, der gewohn­heits­gemäß schon seit 30
Jahren am Sams­tag­abend auf dem Rasen des Olym­pia­sta­dions spa­zieren geht, sich aber plötz­lich von elf rasenden Jung­spunden umzin­gelt sieht. Es war der end­gül­tige Tri­umph des digi­talen über den ana­logen Fuß­ball, der Zukunft über die Ver­gan­gen­heit. Einen Tag, nachdem Win­netou gestorben war, fiel der Held des Spa­ghetti-Wes­terns in den Staub. La Fine. Ende.

Sein letzter Applaus

Als Bar­ce­lonas Kapitän Xavi, der eben­falls sein letztes großes Finale bestritten hatte, den Cham­pions-League-Pokal empor­stemmte und auch hier für einige wun­der­bare Sekunden die Bilder einer großen Kar­riere am inneren Auge des Betrach­ters vor­über­zogen, applau­dierte ein Juventus-Spieler. Es war Andrea Pirlo, mit einer Silberme­daille um den Hals und Tränen in den Augen. Ein Regis­seur wie er weiß großes Kino nun mal zu schätzen.

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