Andrea Pirlo wird Trainer von Juventus Turin. Hier erinnert sich unser Autor an seinen letzten großen Auftritt als Spieler, das Champions-League-Finale 2015. Es war das Ende des Fußballs, wie wir ihn einmal kannten.
Pirlo muss kein mühsam gebasteltes Image pflegen, er hat eine Aura. Zwar strahlt sie nicht, sie fluoresziert eher im Dunkeln, dennoch hebt sie ihn aus der Masse der bubihaften Reklamegesichter heraus und stellt ihn in eine Reihe mit den großen Fremden dieses Sports wie etwa Johan Cruyff, Eric Cantona und Zinedine Zidane – Männern also, die, so berühmt sie auch waren, doch seltsam unbekannt blieben. Über Pirlo weiß man nicht viel mehr, als dass er gern Wein trinkt und seit kurzem mit einer jungen Freundin bummeln geht. Paparazzi schaut er sekundenlang direkt in die Augen, allerdings durch eine undurchdringliche Sonnenbrille. Selbst auf diesen Pressebildern ist seine Aura zu sehen.
Neben ihm wirkt selbst Zlatan wie ein Teenie
„Man muss keine Klatschmagazine lesen“, sagt er. „Man sollte besser etwas anderes lesen.“ Eine ziemlich naheliegende Aussage, die aus seinem Munde jedoch klingt wie ein Menetekel. Pirlo ist mehr als Pirlo, er ist immer auch die finstere Tiefe des Raums, aus der er kommt. Der stoizistische Mittelfeldphilosoph, der mit einem Schweigen mehr sagt als andere in tausend Fieldinterviews. Neben ihm wirkt sogar Zlatan Ibrahimovic mitunter wie ein aufgekratzter Teenie, der auf Youtube Beautytipps in die Welt posaunt.
Wen man nicht durchschaut, dem traut man alles zu. Das war der Nimbus, mit dem Andrea Pirlo und seine glorreichen Halunken zum Finale nach Berlin reisten. Ein 36-jähriger Schleicher soll den FC Barcelona Lionel Messis schlagen? Warum denn nicht. Solange Pirlo sich nicht beeindruckt zeigte, schien alles möglich.
Ein Bild von seiner Landung am Flughafen Tegel ging um die Welt: Er schritt über das Rollfeld und schaute in die Kamera, als würde nicht sie das Foto machen, sondern er mit seinen Augen – natürlich nur, um es sofort wieder zu löschen. Nicht einmal der spießige Rollkoffer, den er hinter sich her zog, konnte den Eindruck seiner lässigen Erhabenheit schmälern.
Pirlo in Berlin! Erinnerungen an Elvis und John F. Kennedy
Und wie so oft bei solchen Ankünften, ob bei Elvis Presleys in Bremerhaven 1958 oder John F. Kennedys in Berlin 1963, überkam die Schaulustigen am Flughafen Tegel der Schock der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren: Andrea Pirlo befand sich tatsächlich in der derselben Stadt wie sie selbst. Was würde das mit ihnen machen? Mit allen anderen, die jemals gegen einen Ball getreten haben? Also auch mit Lionel Messi? Der war etwa zur gleichen Zeit im Jeanshemd dem Barça-Flieger entstiegen und hatte wieder mal ein bisschen so ausgesehen wie ein 16-jähriger Austauschschüler – und erschien nun, für die etwa 30 Stunden, die er bis zum Anstoß am selben Ort weilte wie Andrea Pirlo, durchaus besiegbar. Zumal in dem Stadion, in dem dieser Pirlo neun Jahre zuvor, am anderen Ende der Tiefe des Raumes, Weltmeister geworden war.
Pirlos psychologischer Sieg, kraft seiner Aura alle vernünftigen Prognosen durcheinanderzuwirbeln, dass nämlich der superfrische FC Barcelona dieses Endspiel gegen das überalterte Juventus Turin klar gewinnen würde, folgte die klare Niederlage auf dem Platz. Er selbst wirkte dabei wie ein Mann, der gewohnheitsgemäß schon seit 30
Jahren am Samstagabend auf dem Rasen des Olympiastadions spazieren geht, sich aber plötzlich von elf rasenden Jungspunden umzingelt sieht. Es war der endgültige Triumph des digitalen über den analogen Fußball, der Zukunft über die Vergangenheit. Einen Tag, nachdem Winnetou gestorben war, fiel der Held des Spaghetti-Westerns in den Staub. La Fine. Ende.
Sein letzter Applaus
Als Barcelonas Kapitän Xavi, der ebenfalls sein letztes großes Finale bestritten hatte, den Champions-League-Pokal emporstemmte und auch hier für einige wunderbare Sekunden die Bilder einer großen Karriere am inneren Auge des Betrachters vorüberzogen, applaudierte ein Juventus-Spieler. Es war Andrea Pirlo, mit einer Silbermedaille um den Hals und Tränen in den Augen. Ein Regisseur wie er weiß großes Kino nun mal zu schätzen.
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