Auf den Spuren des alten Goethe: Deutsche Legionäre und ihr süßes Leben in der italienischen Serie A. Eine Zeitreise mit Lothar, Klinsi und Hans-Peter.
Als die Stunde des Abschieds gekommen war, wurde der geliebte Scheidende noch gekrönt. Mit Worten. „Für berühmte Deutsche wie Karl und Otto den Großen oder Goethe hat Italien schon immer eine magische Anziehungskraft gehabt. Nun also zieht ein weiterer Kaiser über die Alpen, um sich dort krönen zu lassen, unser Karl-Heinz Rummenigge.“ Sagte Bayern-Präsident Willi O. Hoffmann, besser bekannt als Champagner-Willi, im Frühjahr 1984, sicher auch berauscht von der exorbitanten Ablösesumme von 11,4 Millionen D‑Mark, die seinen Verein auf einen Schlag entschuldete. Und Fußball-Deutschland verdrückte eine Träne. Der Kapitän der Nationalmannschaft und des FC Bayern zog gen Süden, und seine Motive waren schon den wahren Kaisern und Dichterfürsten nicht unbekannt: Eroberungslust, der Reiz des Neuen und die Abscheu vor der Tristesse des Alltags.
Echte Zukunftsängste plagten den von der Kritik zermürbten 28-Jährigen, das abschreckende Beispiel eines Idols noch im Kopf. In München hatten sie vor Jahren schon ein Denkmal gestürzt, das daraufhin in Amerika seinen Kummer ersäufte: „Ich will nicht so enden wie Gerd Müller“, begründete Rummenigge nach zehn Jahren München seinen Abgang. Ewige Jugend verhieß zwar auch Italien nicht, aber nach allem was man hörte, ließ es sich bestens leben jenseits des Brenners.
Que disastro!
So reiste er im Juli 1984 auf den Spuren von Goethe, nur mit einigen Pferdestärken mehr. Noch ein Unterschied wäre zu bemerken: Der große Poet konnte im September 1786 noch unter falschem Namen reisen, um der Schaffenskrise eine Weile zu entkommen, in die ihn sein langweiliges Ministeramt am Weimarer Hof geführt hatte.
Inkognito bei Inter Mailand zu spielen ist dagegen noch niemandem gelungen, Kalle Rummenigge schon gar nicht. Eher schien es so, als ob ganz Mailand ihn auf Schritt und Tritt begleitete. Zum Amüsement seiner Kollegen sah man ihn im ersten Trainingslager in Tirol am Fenster stehen und beinahe mechanisch zwei italienische Wörter wiederholen: „Que disastro!“ Er blickte auf 2500 Fans, die das Team-Hotel belagert hatten, hauptsächlich seinetwegen. Einige verbrachten fünf Stunden im Baum, um ein Foto von ihm zu schießen, andere wollten gleich in sein Bett.
Nach Inters Abreise vom Pacher-Hof zu Brixen wünschten auffällig viele Gäste in Zimmer 48 zu nächtigen, „am besten bei ungewechselten Laken“, wie der Hotelchef amüsiert vermeldete. So also fing sie an, die süße Zeit der deutschen Legionäre in Italien – die deutsche Vita. Das Land des amtierenden Weltmeisters öffnete seine Grenzen allmählich wieder für Legionäre und Italiens Klubchefs entdeckten die Bundesligastars. Nur wenige Wochen nach Rummenigge wagte auch Hans-Peter Briegel den Sprung, von Kaiserslautern nach Verona. Mit weit geringeren Erwartungen von beiden Seiten und einem gänzlich unerwarteten Ausgang. Um korrekt zu bleiben: die ersten ihrer Dekade waren sie nicht.
„Was bist du für eine schöne Italienerin?“
FC Udine angelte sich schon 1980 den Kölner Herbert Neumann, der weder dort noch in Bologna Legendenstoff produzierte und 1982 zurückkehrte. Dann gab es da noch Hans Müller, den schönen Hansi, auf den Rummenigge in Mailand vergeblich zu treffen hoffte. Sein Kollege aus der Nationalelf erlebte eine sportliche Bruchlandung bei Inter und wurde 1984 nach Como abgegeben. Die Chance, das goldene deutsche Zeitalter einzuleiten, vermasselte ihm sein Knie – und seine kokette Art. Äußerlich selbst ein Italiener, rissen sich die Medien um den adretten Schwaben und schon vor dem ersten Tor lächelte er als Dressman aus den Zeitschriften.
Auch ein Lied durfte er singen, eine Schallplatte wurde aufgenommen mit dem Deutschen, auf Italienisch. Vielleicht wusste er ja gar nicht, was er da von sich gab. Kostprobe: „Was bist du für eine schöne Italienerin? Jetzt weiß ich, warum wir bei der WM gegen euch verloren haben.“ Müller gab zu: „Dass ich gleich zu Beginn ins Werbegeschäft eingestiegen bin, ist einigen Kollegen sauer aufgestoßen.“ Mit der Mafia im Team, Altobelli, Beccalossi und Bagni, lag er im Clinch. „Die haben mich dauernd gedeckelt“, erinnert er sich und auf dem Platz schon mal übersehen. Umgekehrt passierte das auch und die Ohrfeige, die ihm Weltmeister Altobelli nach ausbleibendem Zuspiel gab, machte buchstäblich Schlagzeilen.
Tipps vom verrückten Dänen
Rummenigge und Briegel, das vorweg, hatten bessere Zeiten. Auch wenn es dem Stürmer in einem Punkt nicht anders erging als Müller, er blieb bei Inter ebenfalls titellos. Hans-Peter Briegel dagegen, in Kaiserslautern nie auch nur in Reichweite eines Pokals gekommen, erlebte in Verona ein Märchen. Vom ersten Spieltag stand er mit Hellas an der Spitze, begann gleich mit zwei Toren in den ersten Spielen und marschierte strikt durch zur Meisterschaft. Eine Sensation, wie sie Italiens Fußball lange nicht gesehen hatte.
Im Zentrum der Ovationen die beiden Legionäre Briegel und Preben Elkjær-Larsen. Der latent verrückte Däne gab dem soliden Pfälzer Bauernbub zunächst einige Mode-Hinweise. „Was trägst du so billiges Zeug bei deinem Gehalt? Haste wohl auf dem Obstmarkt gekauft?“, lästerte der Däne, wenn Briegel wieder mal allzu leger durch Bardolino am Gardasee schlenderte.
Doch mehr Kritik gab es nicht am Nationalverteidiger, der sich in Verona seinen Platz aussuchen konnte. Trainer Osvaldo Bagnoli ließ ihm die Wahl. Briegel entschied sich für das zentrale Mittelfeld – und schoss neun Tore. Eines mehr als Rummenigge, was den geärgert haben soll – ebenso wie ein erfundenes Briegel-Zitat. „Wenn ich zwei Tore schieße, muss der Kalle zehn schießen, denn er hat ja fünf mal mehr gekostet“, stand zu lesen. Die beiden Legionäre sprachen sich aus. Das waren erste unangenehme Erfahrungen mit der gefürchteten italienischen Presse. Den Medien stand Briegel aber stets zur Verfügung. Im Meisterjahr ging er wöchentlich ins TV-Studio eines Privatsenders, die Moderatorin empfing ihn ekstatisch: „Nostro Panzärrr! Briegäll!“
Verona war ein neuer Held geboren, und er sah auch so aus. Das Muskelpaket Briegel musste sich so manchen Spruch anhören, auch auf dem Platz. „Na Deutscher, du magst wohl die besonders dicken Steaks?“, provozierte ihn das gefürchtete Juve-Raubein Claudio Gentile. Briegels Konter in Anspielung auf dessen zupackende Art: „Und du liebst wohl die Männer?“ Der Dialog wurde publik, Briegels Ansehen wuchs beinahe täglich. Im Stadion-Innenraum von Verona hing ein Poster: „Briegel, Superman!“ Es war keine Übertreibung in jenen Tagen.
Als am Saisonende der Fußballer des Jahres gewählt wurde, landete er in Italien auf Platz 2 – hinter Diego Maradona. In Deutschland gewann er sogar die Wahl, als erster Legionär überhaupt, und Bundeskanzler Helmut Kohl schickte ein Glückwunsch-Telegramm. Es war ein Märchen, dessen Titel es schon lange gab: Peterchens Mondfahrt. Briegel genoss sein Glück, verstanden hat er es nicht. „Ich habe im letzten Jahr so wenig trainiert, knapp 40 Prozent von dem, was ich in Kaiserslautern tun musste, dass ich dachte, wir kommen niemals über die Runden“, staunte er im Sommer 1985.
Ausgehen ohne Geldbeutel
Überhaupt war so vieles anders im Land, wo die Zitronen blühen. Das Klima, die Menschen, die Mentalität, die Kultur, die Bauwerke. Die Restaurants, die nachts um zwei noch aufhaben. Mit deutschen Augen waren die Eindrücke kaum zu verarbeiten. „Man müsste mit tausend Griffeln schreiben, was soll hier eine Feder! Und dann ist man abends müde und erschöpft vom Schauen und Staunen“, fand schon Goethe. Thomas Berthold, der 1987 als nächster Deutscher auszog, das Schwärmen zu lernen und von Frankfurt über Verona bis in die Ewige Stadt wechselte, war schier begeistert: „Ich war in Rom viel unterwegs, es gab ja immer wieder was Neues zu entdecken. Es war mein größter Fehler, so früh aus Italien weggegangen zu sein.“
Wie Briegel sah er sich in Veronas berühmter Freilichtbühne Aida an. Briegel: „Ich bin ja kein großer Opernfreund. Wenn man schon hier spielt, sollte man Aida aber mal gesehen haben.“ Überwältigend war in den Achtzigern die Heldenverehrung. Briegel: „Egal, welches Restaurant oder welche Bar ich am Gardasee betrat, meinen Geldbeutel konnte ich immer zuhause lassen. Ob ich wollte oder nicht, ich war immer eingeladen.“ Das berichten alle Legionäre unisono. Berthold war diese Angewohnheit zuweilen so peinlich, dass er mal nach einem Abend in großer Runde einige Geldscheine unter die Tischdecke legte, aber der aufmerksame Kellner rannte hinterher und steckte ihm alles wieder in die Jackentasche. Dolce vita!
Vergoldete Fußabdrücke
Auch Briegel war die Zuneigung eher unangenehm. „Ich bin kein Star. Wenn mich einer so anhimmelt, krieg ich Schweißausbrüche.“ Sicherlich nicht nur deshalb ging er nach zwei Jahren nach Genua, wo Briegel wesentlich mehr Geld verdiente und 1988 Pokalsieger wurde. Ein Glücksgefühl, das Karl-Heinz Rummenigge draußen in seiner Villa am Comer See entbehren musste. Die größte Inter-Party jener Zeit war sein 30. Geburtstag, zu der er die ganze Mannschaft und allerlei Prominenz einlud. Die „Interista“ waren dem DFB-Kapitän, der immerhin 34 Tore in drei Jahren schoss, aber nicht böse. Sein 700-Mitglieder starker Fanklub, den es heute noch gibt (als Bayern-Fanklub), hatte sogar seine Fußabdrücke vergolden lassen.
Und jeden Sonntag wartete im Restaurant St. Anna am Stadtrand von Como ein Tisch auf ihn, denn sein Freund, Wirt Fausto, hoffte nach einem Inter-Spiel stets auf einen Besuch seines Ehrengastes. Rummenigge, der schon nach einem Jahr blendend Italienisch sprach, hatte sich vorbildlich italienisiert und stellte in diesem Punkt alle Legionäre in den Schatten. Sein Motto zu Beginn: („Schmeißt mich ins kalte Wasser, desto eher lerne ich. Ein Rummenigge braucht keine Extrawurst. Das schadet nur“), machte sich bezahlt. Er reifte in seinen drei Mailänder Jahren zum Weltmann.
Als Lothar Matthäus 1986 erstmals mit Inter verhandelte, fungierte er schon als Dolmetscher – auf Bitten des Inter-Vorstands. Inters große Jahre sollten noch kommen, und es war die besondere Tragik des Karl-Heinz Rummenigge, dass er den Großangriff unter dem neuen Präsidenten Ernesto Pellegrini nicht mehr miterlebte. Die große Zeit begann erst ein Jahr nach der Ära Rummenigge, die an einem nebligen Februar-Sonntag 1987 in Brescia ihr Ende fand. Zwei Fouls in den ersten beiden Minuten zwangen ihn zum Ausscheiden, die Achillessehne schwoll an. Trainer Giovanni Trapattoni gab Rummenigge keinen Vertrag mehr.
Wenige Wochen danach versuchte ein anderer Nationalstürmer sein Glück. Rudi Völler wechselte 1987 von Bremen zum AS Rom. Längst war die Faszination der besten Liga der Welt mit ihren vollen Stadien im Kreis der Nationalmannschaft ein Lieblingsthema. „Wer sich in Italien nicht als Fußballer bewiesen hat, kann später nicht sagen, er sei ein guter Fußballer.“, sagte Völler und versuchte sich. Er biss zunächst auf Granit, die defensive Spielweise behagte ihm gar nicht. Damals fielen in Italiens Serie A 2,1 Tore pro Spiel, in der Bundesliga 3,15. Völler war wegen der Sprache isoliert und die hämischen Schlagzeilen – „Weihnachten ist öfter als ein Tor von Völler“ – trieben ihn gedanklich nach Hause.
Sie hämmern mit Eisenstangen
Als er in der zweiten Saison zunächst auf die Bank musste, verhandelte er mit Eintracht Frankfurt und kaufte sich schon mal eine Eigentumswohnung in Offenbach. Doch dann bekam er eine neue Chance und traf gegen Meister Neapel – und alles wurde gut. „Ein einziges Tor verändert hier das Leben. Wenn du die Bude triffst, bist du der König. Wenn nicht, kennt dich keiner“, hatte er seine Lektion gelernt. Fünf Jahre hielt Völler es in Rom aus, und als Freund Thomas Berthold 1989 kam, wurde es noch angenehmer.
Berthold lernte allerdings auch eine neue Seite der Begeisterung kennen. Eine dunkle. Bei den Derbys gegen Lazio schlug sie um in Gewalt. „Ich habe noch nie eine Mannschaft so schnell in die Kabine sprinten sehen wie nach unserem 1:0 bei Lazio“, erinnert sich Berthold an sein erstes Jahr in Rom. Fanatiker hatten mit Eisenstangen gegen die Plastikscheibenumrandung gehämmert. Später hockten wir alle auf dem Gang im Bus und draußen flogen die Wackersteine. Das war kein Spaß“, erschaudert der Weltmeister von 1990.
400 000 DM Handgeld
Lothar Matthäus wechselte 1988 aus München zu Inter Mailand, dort wollte er sich die Nummer 8 nehmen, aber Trapattoni verordnete ihm die 10. „Das ist eine besondere Nummer und du bist eine besondere Persönlichkeit.“ Basta! Matthäus war die Lokomotive des neuen Inter, getrieben von der Schmach, 14 Punkte hinter Meister Milan gelandet zu sein, das damals drei Holländer dominierten: Gullit, van Basten und Rijkaard. Am Trainingsplatz keifte eine Frau Matthäus an: „Den Gullit musst du an den Haaren ziehen, wenn er davonlaufen will.“
Inter-Boss Pellegrini versuchte es nun also mit den Deutschen, den natürlichen Feinden der Holländer. Matthäus durfte Andy Brehme von den Bayern mitbringen, der sich schon mit Genua geeinigt hatte, als Kumpel Lothar ihn anrief. Das Duo kostete über elf Millionen D‑Mark Ablöse – und noch viel mehr, wie nachlesbar ist. Der erprobte Doppelpass zwischen Matthäus und den Medien funktionierte auch nach seinem Wechsel und so stand sein Vertrag alsbald in „Sport Bild“: „Inter zahlt an den Spieler für die Dauer des Vertrages vom 1.7.1988 bis zum 30.6.1991 den Betrag von 4 400 000 netto …“, dazu kamen 400 000 DM Handgeld und 600 000 DM für Werberechte. Brehme finanzierte Pellegrini aus der Portotasche mit, er galt eher als Anhängsel zur besseren Integration. Beide quartierten sich in Carimate am Comer See ein, wo die Häuser bei Mailänder Derbys beflaggt waren.
Klinsmann hielt Distanz zu den anderen Deutschen
Doch der Verteidiger Brehme legte eine Briegel-Karriere hin. 1989 war Inter plötzlich ein souveräner Meister und Brehme Spieler des Jahres. Die „Gazetta dello Sport“ feierte ihn nach dem Titelgewinn als „Astronauten im Sondereinsatz“. Antreiber Matthäus bekam zurückhaltende Kritiken im ersten Jahr, hatte aber doch ungekannte Erfolgserlebnisse: „Die geben mir hier fast jeden Ball.“ Und zwei Mal die Woche ließ ihn Trapattoni seinen linken Fuß trainieren, was im Sommer 1990 von nationaler Bedeutung werden sollte. Bei der WM in Italien waren die fünf Italien-Legionäre die Wegbereiter zum Triumph von Rom. Der Fünfte war Jürgen Klinsmann, den Pellegrini im Sommer 1989 geholt hatte. Der blonde Schwabe erwies sich als Kommunikationswunder und wurde von Matthäus beneidet: „Der Jürgen hat viel mehr private Kontakte als der Andy und ich, obwohl wir viel länger da sind.“
Klinsmann ging seine eigenen Wege, bezog eine Wohnung in Cernobbio, hatte italienische Freunde im Team und hielt Distanz zum deutschen Duo: „Ich bin froh, dass ich Lothar Matthäus und Andy Brehme hier zur Seite habe. Doch zurechtfinden will ich mich alleine.“ Klinsmann war der Einzige, der nebenan beim Bäcker frühstückte. Villen bewohnten die anderen, Berthold hatte in Verona einen Weinkeller, Matthäus schipperte mit einem Motorboot über den Comer See, Brehme lernte in Mailand Golfspielen und Völler fand eine neue Frau. Schön war die Zeit. „Fußball in Italien, das ist, als ob man den Himmel berührt“, schwärmte Rummenigge. Goethe hätte es nicht besser sagen können.