Nach dem 0:6 gegen Spanien hat der Bundestrainer nur zwei Möglichkeiten: Er muss sich neu erfinden – oder den Hut nehmen.
Die ARD-Kameras waren unerbittlich. Hatte sich die deutsche Mannschaft gerade mal wieder ein Gegentor gefangen, schnitt die Senderegie flugs hinüber zu Joachim Löw, der nahezu regungslos auf der überdachten Trainerbank saß. Wer erwartet hatte, der Bundestrainer würde das Team in seiner größten Krise besonders intensiv coachen, der sah sich an diesem Abend getäuscht. Nur der etwas vorgeschobene, mahlende Kiefer verriet etwas von der Anspannung des Coachs, ansonsten ergab sich Löw still dem Desaster. Beim 0:6 in Sevilla gegen Spanien ließ die Mannschaft den Trainer im Stich – und der Trainer die Mannschaft auch.
Als endlich alles vorbei war, wurde zuallererst eine Statistik herausgekramt, derzufolge die Nationalelf zuletzt so hoch im Jahr 1931 gegen Österreich verloren hat. Was einerseits den historischen Charakter dieser Niederlage klarmachte, andererseits aber auch den Blick darauf verstellte, dass auch ein 0:3 oder 0:4 den zuvor so oft propagierten Neuaufbau der Nationalelf als bloße Behauptung entlarvt hätte. Denn das ist die Quintessenz des gestrigen Abends: Der Versuch, nach der desaströsen WM in Russland 2018 mit neuen Kräften und neuen Ideen das Team zurück in die Weltspitze zu führen, ist gescheitert. Nichts funktionierte am gestrigen Abend: Weder in der Defensive, die mit teils grotesken Abspiel- und Stellungsfehlern die Spanier zum Toreschießen einluden. Noch im Mittelfeld, das bisweilen hektargroße Räume für schnelle spanische Gegenstöße offenließ. Und auch nicht im Sturm, der über neunzig Minuten nicht eine einzige gefährliche Strafraumsituation hervorbrachte. Es war eine einzige Katatstrophe.
Und es machte klar, dass die flüchtige Aufbruchstimmung, die das 3:1 gegen die ersatzgeschwächte Ukraine vor ein paar Tagen erzeugt hatte, nur eine Illusion war. Das 0:6 zeigte stattdessen auf brutalste Weise auf, wie weit die Mannschaft derzeit von den Spitzenmannschaften entfernt ist, wie wenig es Joachim Löw gelungen ist, der Mannschaft in den letzten Jahren Struktur zu geben. Das Pressing – amateurhaft. Das Positionsspiel – zerfahren und unkonzentriert. Kämpferische Präsenz – nahezu nicht vorhanden. Und all das geschlagene zwei Jahre, nachdem direkt im Anschluss an die völlig verkorkste WM 2018 vollmundig der Neuaufbau der Mannschaft ausgerufen wurde.
Dieser Neuaufbau ist zunächst gescheitert. Dafür gibt es viele Gründe, deren offensichtlichster die Bürde des Titelgewinns 2014 ist. Große Mannschaften fallen nach Titelgewinnen oft zusammen wie ein Soufflé. Das große Ziel ist erreicht, der Fokus fehlt, Selbstüberschätzung macht sich breit. Nur mit viel Können und Glück gelingt die Retransformation einer erfolgreichen Mannschaft zurück in ein Team, das wieder nach Erfolgen giert. Die deutsche Nationalelf und vor allem ihre Führung haben hingegen nach der WM 2014 in Selbstzufriedenheit gebadet. Umbruch und Neuorientierung? Wozu denn, wir sind doch Weltmeister, wir sind „Die Mannschaft“!
Dieser generische, auf einem erfundenen Steven-Gerrard-Zitat basierende Spitzname steht längst stellvertretend für die aseptische Atmosphäre, die die Nationalelf seit Jahren umweht und die sich wunderbar symbolisch in den stumpfen Choreographien des „Fanclubs Nationalmannschaft“ ausdrückt, der seit Jahr und Tag die Kurven mit nichtssagenden Motivationssprüchen bestückt. Gegen die Ukraine war überlebensgroß zu lesen „Wir für euch!“ Was in einem menschenleeren Stadion ungefähr so treffsicher war wie die deutschen Stürmer gegen Spanien. Und ein Motto, das ein paar Tage später von einer deutschen Mannschaft konterkariert wurde, die im spanischen Angriffswirbel in ihre Einzelteile zerfiel.