Dieter Schatzschneider, wer ist Ihrer Meinung nach der beste Stürmer aller Zeiten?
Der beste Stürmer wird immer Gerd Müller bleiben. Er war der perfekte Strafraumstürmer, mit seinen gewaltigen Oberschenkeln, seiner Hebelwirkung. Er war aber – und das wird oft verkannt – auch ein sehr guter Techniker. Wie oft kam Günter Netzer aus dem Mittelfeld und hat den Doppelpass mit Müller gespielt? Man müsste mal sehen, wie viele Scorerpunkte der Bomber hatte. Ich habe keinen Besseren gesehen. Leider konnte ich ihm nicht nacheifern, so sehr ich auch versucht habe, ihm etwas abzuschauen (lacht). Die Bewegungen, die er drauf hatte, waren einmalig.
Wo steht im Vergleich dazu Thierry Henry, der Held unserer aktuellen Titelgeschichte?
Das ist eine schwierige Frage, die man eigentlich nicht beantworten kann. Gerade neulich sah ich in der „Bild“-Zeitung eine Rangliste der besten Stürmer aller Zeiten – aber das ist doch Blödsinn. Über all die Jahre hat es immer wieder fantastische Stürmer gegeben, die jedoch kaum miteinander zu vergleichen sind. (überlegt) Wenn Sie unbedingt ein Antwort von mir hören wollen, dann sage ich: Henry gehört auf jeden Fall zu den besten zwanzig Stürmern aller Zeiten.
Müller war ein Wühler, Henry ist ein pfeilschneller Athlet. Wie würden Sie Ihren persönlichen Stil beschreiben?
Stimmt, Henry lebt von seiner Schnelligkeit und kommt aus dem Mittelfeld. Das lag mir weniger. Ich lauerte im Strafraum und lebte von meinem Durchsetzungsvermögen. Ich musste den Ball erobern und behaupten. Müller hingegen hatte eine so kurze Reaktionszeit, dass er sowieso immer als Erster am Ball war.
Wie wichtig war Ihnen Eleganz?
Ich bin ungefähr so groß wie Thierry Henry. Mit dem Unterschied, dass 1,90 Meter bei mir immer furchtbar aussahen (lacht)! Ich war also nie elegant, aber effektiv. Das hätte eigentlich gereicht. Doch ich muss dazu sagen, dass die Bundesliga ihre Stürmer immer selbst gemacht hat. Eine zeitlang waren große Mittelstürmer wie ich modern, auf einmal wurde ein kleines Schlitzohr wie Frank Mill zum Kult. Seit bei Borussia Dortmund Jan Koller stürmte und nun der FC Bayern Luca Toni geholt hat, ist der Schatzschneider-Typ wieder angesagt. Es ist also eine Frage der Mode.
Hat man als Stürmer ein gewisses Repertoire an Tricks, auf das man situationsbedingt zurückgreift, oder geschieht alles intuitiv?
Bei mir kam alles aus dem Bauch. Einen Mittelstürmer zeichnet aus, dass er auch nach sechs Fehlversuchen noch mal das Gleiche macht – und dann ist der Ball drin. Viele Stürmer von heute lassen schon die Öhrchen hängen, wenn zwei Leute pfeifen. Das ist verkehrt!
Ist also die Psyche für einen Stürmer wichtiger als das technische Rüstzeug?
Absolut! Du brauchst Selbstvertrauen auf einem hohen Niveau. Dann kannst du auch Freitagabend in die Disko gehen und Samstagmittag noch eine Currywurst essen und zwei Liter Cola trinken – und machst trotzdem deine Buden! Dir dieses Selbstvertrauen zu bewahren, auch wenn die Medien auf dich einprügeln, die Fans pfeifen und der Trainer sauer auf dich ist, das ist allerdings der harte Weg.
Ein Stürmer wird mehr an Zahlen gemessen als jeder andere Spieler. Wie geht er damit um, wenn es heißt: „Jetzt ist er schon 951 Minuten ohne Tor“?
Viele zerbrechen daran, selbst ich, als ich bei Schalke 04 das Tor nicht mehr traf. Man setzt sich selbst ab einem gewissen Zeitpunkt unter massiven Druck. Wenn du aber in ein Spiel gehst und sagst: „Heute gebe ich einfach nur mein Bestes“, dann geht mal eine Lusche rein, und der Bann ist gebrochen. Du kannst zehn Fehlpässe spielen – das ist sofort vergessen, wenn du nur einmal die Hütte triffst.
Ist Ihnen mal ein Trick gelungen, den Sie hinterher selbst nicht begriffen haben?
Das weiß ich noch ganz genau: Ich spielte für Fortuna Köln im DFB-Pokal-Halbfinale gegen Borussia Dortmund. Mein Gegenspieler war Rolf Rüssmann, und ich schoss drei Tore. Eins davon war einmalig. Normalerweise schießt von da ja keiner aufs Tor: Hinten rechts am Sechzehner, an der Torauslinie. Der Ball kommt über Rollis Kopf runter, und ich haue ihn irgendwie drauf – entweder treffe ich das Tor, oder ich haue den Flutlichtmast kaputt. Der Ball ging in den Winkel. Hinterher habe ich natürlich behauptet, es sei Absicht gewesen (lacht)!
Das erinnert mich an Marco van Bastens sagenhaftes 2:0 für Holland im EM-Finale 1988 gegen Russland.
Ja, genau! Und soll ich Ihnen was sagen? Der hat das auch nicht mit Absicht gemacht (lacht)!
Früher van Basten, Cantona oder Bergkamp und heute Henry, Ronaldinho oder Eto’o tun Dinge, die die Physik auf den Kopf stellen. Muss ein guter Stürmer auch immer ein Zauberer sein?
Ich denke schon. Zumal Fußball immer mehr zur Unterhaltung wird. Wenn deine Tricks auf dem Platz wirklich reibungslos funktionieren, dann liebt dich das Volk. Gerade bei den modernen Stürmern, die Sie genannt haben, kommt zum Torinstinkt, wie ihn auch Gerd Müller hatte, eine spielerische Klasse und Athletik hinzu – fantastisch! Dafür kommen die Leute ins Stadion.
Besteht dabei nicht die Gefahr, zu ballverliebt zu sein?
Die Quittung bekommen die Jungs dann, wenn es nicht läuft, klar. Aber ich glaube, das ist ihnen wurscht, weil sie genau wissen: Wenn ihnen wieder etwas technisch Hochwertiges gelingt, dann stehen die Fans wieder auf ihren Sitzen. Und wenn sie dann auch noch ein Tor machen, ist es ja schon gar nicht mehr auszuhalten (lacht).
Wie wichtig ist es, dass ein Tor schön ist?
Für mich als Stürmer war es egal. Hauptsache, die Kugel war drin. Heute als Fan freue ich mich natürlich, wenn ein Tor nicht nur fällt, sondern darüber hinaus auch besonders schön ist. Tore, bei denen ich sagen kann: „Boah, das war genial!“ – die wünsche ich mir.
Was zählt in Stürmerkreisen eigentlich die Auszeichnung zum „Tor des Jahres“?
Ich war einmal Zweiter und habe mich nicht darüber geärgert, dass ich nicht gewonnen habe. Es hat ungefähr das gleiche Prestige, wie Torschützenkönig in der A‑Jugend zu werden.
Und was gilt es, Torschützenkönig der Bundesliga zu werden?
Das war die große Herausforderung. Aber ich hatte es schwer, die Konkurrenz war groß: Frank Mill, Rudi Völler und wie sie alle heißen. Wir haben uns gegenseitig hochgeschaukelt. Wenn heute einer über zehn Tore kommt, wird er sofort Nationalspieler. Das ist verkehrt!
Mal ehrlich, Herr Schatzschneider…
Ich bin immer ehrlich!
Kann ein Stürmer sich freuen, wenn seine Mannschaft 6:0 gewonnen hat, er selbst aber kein Tor erzielt hat?
Ganz ehrlich?
Bitte!
Freuen schon, aber nicht so richtig (lacht). Dazu war ich zu selbstkritisch. Man hat ja Angst, dass ein anderer auf einmal der Torjäger ist!
Kann ein Stürmer ein Spiel tatsächlich allein entscheiden?
Ich glaube schon. Ich sage oft zu Mirko Slomka (Trainer von Schalke 04, Anm. d Red.): „Was dir fehlt, das ist keine rechte Seite, kein Abwehrspieler – du hast einfach keinen Stürmer, der das 1:0 macht!“ Denn wenn dieser Mannschaft die Führung gelingt, dann hat sie aufgrund ihrer Zusammenstellung die Möglichkeit, total dicht zu machen: Kristajic, Bordon, Ernst, Jones, Neuer im Tor! Aber der Stürmer, der dieses 1:0 macht, so wie Luca Toni bei den Bayern, der fehlt den Schalkern. Kuranyi kommt mir immer so vor, als wenn er 90 Minuten nur Probleme mit seinen Haaren hat. Im besten Fall macht er das 2:0 oder 3:0.
Kommt hier wieder die Psyche ins Spiel?
Absolut! Kuranyi ist ein guter Fußballer, aber er ist hochsensibel. Das siehst du an seiner Körpersprache, wenn er ein paar Mal nicht getroffen hat. Du musst es einfach immer wieder versuchen – dazu gehört auch eine Art von Verbissenheit und Beklopptheit.
Arsenals Mittelfeldmann Cesc Fabregas begrüßte Henrys Abgang, da dieser die Mannschaft „eingeschüchtert“ habe. Kann ein überragender Stürmer seiner Mannschaft tatsächlich schaden?
Eigentlich nicht. Aber wenn du einen Henry in der Mannschaft hast, der große Räume für sich in Anspruch nimmt, kannst du nur ein System spielen. Insofern verstehe ich Fabregas, dass er sich freut, vielleicht mal ein anderes System auszuprobieren.
Gibt es einen Spieler wie Henry, der sich die Bälle aus dem Mittelfeld holt und von dort aus zum Dribbling ansetzt oder Regie führt, nur deshalb, weil die klassische Nummer 10 verschwunden ist?
Ja, leider. Und nicht nur das: Ich finde es schrecklich, dass die Mittelstürmer, soviel nach hinten arbeiten und ihre Kraft damit verpulvern müssen, dass sie bei einem Eckball gegen ihre Mannschaft den Ball hinten rausköpfen müssen. Immer hin und her, rauf und runter – irgendwann bist du platt und versagst vor der Bude.
Zu Ihrer aktiven Zeit gab es noch eine klare Hierarchie: Der Mittelstürmer war der Platzhirsch. Waren die Defensivspieler manchmal eifersüchtig auf Sie?
Aber klar! Das gab es pausenlos. Dann musste der Trainer ein Machtwort sprechen: „Der Lange macht vorne die Tore, du hältst hinten den Laden zusammen – und so verdienen wir gemeinsam unsere Kohle!“ Später fingen die Trainer an und wollten mir auch Defensivaufgaben übertragen. Aber ich bin schön an der Mittellinie stehen geblieben und habe gedacht: „Die sind doch sowieso drei mehr!“ Und der Trainer schrie: „Langer, zurück!“ Und ich habe geantwortet: „Lauf doch selber hinterher, ich schieß lieber Tore!“ Und das sehe ich heute noch so. Was könnte allein Mike Hanke hier bei uns in Hannover für Tore schießen, wenn der nicht soviel keulen müsste!
Wie müssen sich Stürmer und Vorbereiter zueinander verhalten? Gibt es wirklich das „blinde Verständnis“?
Ganz bestimmt. Das hatte ich in Hannover und später auf Schalke mit Bernd Dierßen. 70 Prozent der Bälle, die ich zu Toren gemacht habe, kamen von Bernd Dierßen. Aber trainiert haben wir das nie. Er war sehr schlau, sehr laufstark, und wenn er den Kopf hochnahm und jemanden suchte, dann fand er mich.
Beim HSV trafen Sie auf Wolfram Wuttke – auf dem Papier ebenfalls ein Traumpaar.
Auf dem Papier – und außerhalb des Spielfeldes (lacht)! Der Wölfi war ein Genie. Wie der die Bälle mit dem Außenrist in den Winkel gekloppt hat! Ein Genuss! Ich habe mich immer gewundert, dass er sich dabei nichts gerissen hat. Aber zu dieser Zeit waren wir beide verunsichert und wollten bloß keine Fehler machen. Das konnte ja nichts werden.
Ein guter Stürmer braucht sowohl Routine und Athletik. Im Laufe der Karriere nimmt das eine zu, das andere ab. Wann ist der Stürmer auf seinem Zenit?
Es gibt eine Phase, in der man das Gefühl hat, dass man unverwüstlich ist, so mit 26, 27 Jahren. Mit 30 bekommst du schon Schwierigkeiten, an den Gegenspielern vorbeizukommen. Und wenn du dann den Biss nicht mehr hast – so wie ich –, dann droht die Blamage. Dann sollte man besser aufhören.
Kann man das Verhältnis zwischen Stürmern und Verteidigern als „Hass“ bezeichnen?
Manche Attentate sind schon dabei, das stimmt. Aber hinterher – und das schätze ich ganz besonders am Fußball – gibt man einander die Hand. Ich kenne keinen, ob das ein Jürgen Kohler ist, ein Karlheinz Förster oder Roland Dickgießer, zu dem ich heute ein schlechtes Verhältnis hätte.
Mit welchen Tricks widersetzt man sich den Manndeckern?
Mit allem, was Sie sich in Ihren schlimmsten Alpträumen vorstellen (lacht). Wenn es damals schon so viele Kameras im Stadion gegeben hätte, dann wäre ich wohl in einem Jahr acht Monate gesperrt gewesen.
Wie stehen Sie zu Schwalben? Stellen sie das moralische Gleichgewicht zwischen Stürmer und Verteidiger manchmal wieder her?
Nein. Schwalben sind ekelhaft! Am schlimmsten ist es, wenn einer dieser Pharisäer sich offensichtlich fallen lässt und dann auch noch das Publikum gegen den Schiedsrichter aufbringen will. Grauenvoll!
Verliert man, wenn man wirklich umgeholzt wird, irgendwann die Lust, wieder aufzustehen?
Diese Tage gibt es. Wenn du fünf‑, sechsmal von hinten umgetreten wirst, willst du deinen Gegenspieler erwürgen.
Müssen kreative Spieler, wie Bayern-Manager Uli Hoeneß gefordert hat, besser geschützt werden?
Diese Forderung von Uli Hoeneß ist absoluter Quatsch! Ribéry oder auch Diego wissen sich, wie jeder überragender Spieler, selbst zu schützen. Von außen braucht sich da niemand Sorgen zu machen.
Das Spiel wird immer defensiver, die Torquote sinkt – trotzdem steigt das Interesse immer weiter. Sind Stürmer am Ende gar nicht die Hauptattraktion?
Der Fußball hat aufgepasst – mehr als andere Sportarten. Die Stadien sind ein Ausflugsziel für Familien und eine Businessstätte für Geschäftsleute geworden. Der Komfort wächst – und in einem hat Uli Hoeneß natürlich Recht: Wer möchte denn noch im Olympiastadion auf der Gegengerade im Schnee stehen? Niemand! Im Leben nicht! Aber das Wichtigste ist und bleibt das Spiel, und die Tore sind immer noch das Salz in der Suppe. Und wer schießt die Tore? Na?
Die Stürmer.
Genau.