Der Peruaner Kukin Flores galt als einer der besten Spieler Südamerikas. In Europa kennt ihn aber kaum jemand – Schuld sind Drogen, Alkohol und Poltergeister.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er die vier Fans in Ruhe gelassen hätte. Wenn er einfach ins Auto gestiegen und weggefahren wäre. Aber das konnte er nicht, denn er hatte ja seinen Stolz.
Am Abend nach der 0:1‑Niederlage in der WM-Qualifikation gegen Kolumbien hatten sie ihn auf dem Nachhauseweg abgepasst. Er wollte in einem Tankstellenshop noch Bier und Wein kaufen. „Na, willst du die Pleite feiern?“, fragten sie, schubsten ihn und traten gegen sein Bein, und da schlug zurück.
Das kommende Qualifikationsspiel gegen Uruguay musste er absagen, sein Oberschenkel schmerzte zu sehr. Als Nationaltrainer Francisco Maturana danach von dem wahren Grund seiner Verletzung erfuhr, suspendierte er ihn. Nie wieder spielte Kukin für Peru. Und die Männer des RSC Anderlecht, die nach Südamerika kommen wollten, um sich den neuen Wunderspieler anzuschauen, meldeten sich auch nicht mehr. Das war im Sommer 2000.
Der peruanische Fußball hat einige erstklassige Spieler hervorgebracht. Der ewige Claudio Pizarro, klar. Paolo Guerrero, der Rekordtorschütze seines Landes. Oder Teofilo Cubillas, der Peru zu drei Weltmeisterschaften und zum Gewinn der Copa America 1975 führte. Große Spieler, die auch in Europa berühmt und erfolgreich gewesen sind. In Peru aber gilt Carlos „Kukin“ Flores als der beste Spieler von allen. Und das finden nicht nur ein paar Besserwisser und Fußballfreaks, sondern auch ein Trainer wie Jorge Sampaoli, der nach Kukins Tod im Februar 2019 sagte: „Er war Perus Maradona. Das Problem war nur, er wusste nicht, wie man damit umgeht, Maradona zu sein.“
Kukins Story ist eine von diesen vielen Fußball-Achterbahn-Geschichten, ein ewiges Auf und Ab, an dessen Ende die bekannte Oasis-Zeile steht: Where did it all go wrong? Wo ging die ganze Sache nur schief? Seine Biografie liest sich stellenweise, als sei sie einem Roman von Hunter S. Thompson entlehnt. Kukin, der schräge Anhalter am Wegrand oder der Irre am Tresen, der dir Storys erzählt, die niemand so richtig glaubt, aber egal, die Storys sind gut.
„Er hätte unter anderen Umständen wie Neymar werden können“
Drei Dinge konnte Kukin Flores sehr gut: trinken, koksen und Fußball spielen. In einer TV-Show gab er mal zu, dass er schon als Kind Drogen genommen hatte, mit Anfang 20 sei er süchtig geworden. Wie er das beim Fußball mit den Dopingproben gemacht habe, wollte der Moderator wissen. Kukin antwortete, das sei sein Geheimnis.
Er litt an paranoider Schizophrenie. Er fühlte sich oft verfolgt. Er sah Echsen und Drachen und andere Fabelwesen. Einmal fand man ihn nackt auf der Straße liegend. Der Polizei sagte er, ein Geist hätte ihn gejagt. Ein anderes Mal, schon nach der Fußballkarriere, fiel er aus dem vierten Stock eines Hauses. Zeugen berichteten, dass er versucht hatte, über das Fenster in seine Wohnung zu gelangen, weil er seinen Schlüssel vergessen hatte. Er brach sich drei Rippen und zog sich eine doppelten Fraktur im rechten Oberschenkel zu. Cesar „Chalaca“ Gonzales, sein Trainer bei den Sport Boys aus Callao, besuchte ihn im Krankenhaus und sagte: „Gott hat dir eine letzte Warnung gegeben!“ Kukin lächelte ihn an, nickte und machte einfach weiter.
Das Leben hatte für Kukin schon nicht besonders rosig angefangen. Als jüngstes von elf Kindern wuchs er in Callao auf, einer Hafenstadt in der Metropolregion von Lima. Schutt und Müll an der einen Kreuzung, Kokain und Heroin an der nächsten, die Polizei traut sich bis heute nicht in bestimmte Gegenden in Callao. Kukins Eltern hatten sich bald nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht, seine älteste Schwester kümmerte sich fortan um die Geschwister. Jugendtrainer Gonzales sagte: „Ich wusste, dass er zu Hause kaum was zu essen hatte. Oft kam er mit kaputten Schuhen zum Training. Er war eine ganz besondere und schwierige Person. Trotzdem habe ich ihn mehr geliebt als jeden anderen. Er hätte unter anderen Umständen wie Neymar werden können.“
Gonzales wollte, dass diese Umstände sich ändern, aber er merkte, dass der alte Gangsterrap-Kalenderspruch wahr ist: Du bekommst einen Jungen aus Callao, aber Callao nicht aus einem Jungen. Gonzales holte ihn von zu Hause ab, er zahlte sein Mittagessen und brachte ihn in eine Schule. Kukin hielt es 20 Tage aus, dann ging er nicht mehr hin. Er hasste Regeln. Er spielte im Mittelfeld, offensiv, ein Zehner, frei, schwerelos beinahe. Wenn er den Ball führte, schwebte er über den Platz, sagten seine Fans. Wenn ihm sein Trainer sagte, spiel so oder so, zeigte er ihnen den Vogel: „Chalaca, du Betrüger, du redest zu viel!“ Und dann machte er es so, wie er es wollte.
Er schaffte es sogar mal nach Europa, 1998/99 spielte er für den griechischen Klub Aris, aber haute wieder ab, als der Trainer ihm etwas von Taktik erklären wollte. In Brasilien spielte Kukin für Paranaense, in Argentinien für Belgrano, er war ein Jahr in Saudi-Arabien bei Al-Hilal. Er scherzte, Pablo Escobar soll ihm, den Kokainsüchtigen aus Peru, mal ein Angebot gemacht haben, um für den Atlético Nacional de Medellín zu spielen. Das wäre ja passend gewesen, fand er. Insgesamt hat er 25 Mal den Verein gewechselt, am Ende landete er immer wieder bei Klubs in Peru, meistens in Callao oder Lima.