Paolo Guerrero? Claudio Pizarro? Der beste peruanische Fußballer aller Zeiten war Kukin Flores. In Europa kennt ihn kaum jemand – Schuld sind Drogen, Alkohol und Poltergeister.
Am frühen Morgen des 17. Februar 2019 klingelte auf der Polizeistation Maranga in San Miguel, einem Viertel von Lima, der Notruf. Eine Frau namens Liz Contreras meldete sich. ihr Freund habe die Nacht durchgefeiert, und nun erzählte er, dass ihn böse Geister töten wollten. Die Polizei informierte die Rettungssanitäter, aber als sie ankamen, konnten sie nur noch den Tod des Mannes feststellen. Sein Name war Carlos Flores.
Am nächsten Tag machte im Internet ein Foto die Runde, es zeigte Flores, nur in Fußballhose bekleidet, auf dem dem Boden liegend. Daneben, wie drapiert, ein Tütchen mit einer weißen Substanz, Kokain angeblich. Im Polizeibericht, den seine Freundin Liz Contreras unterschrieb, stand außerdem, dass Carlos Flores, den alle nur Kukin nannten, einen paranoiden Anfall gehabt hätte. Er wollte Suizid begehen, weil er glaubte, er würde von jemandem verfolgt, der ihn umbringen wollte. Als Todesursache wurde ein Herzinfarkt nach übermäßigem Drogenkonsum angegeben.
Aber war es wirklich so?
„Er war Perus Maradona. Das Problem war nur, er wusste nicht, wie man damit umgeht, Maradona zu sein.“
Der peruanische Fußball hat einige erstklassige Spieler hervorgebracht. Der ewige Claudio Pizarro, klar. Paolo Guerrero, der Rekordtorschütze seines Landes. Oder Teofilo Cubillas, der Peru zu drei Weltmeisterschaften und zum Gewinn der Copa America 1975 führte. Große Spieler, die auch in Europa berühmt und erfolgreich gewesen sind. In Peru aber giltKukin Flores als der beste Spieler von allen. Und das finden nicht nur ein paar Besserwisser und Fußballfreaks, sondern auch ein Trainer wie Jorge Sampaoli, der nach Kukins Tod im Februar 2019 sagte:„Er war Perus Maradona. Das Problem war nur, er wusste nicht, wie man damit umgeht, Maradona zu sein.“
Kukins Story ist eine von diesen vielen Fußball-Achterbahn-Geschichten, ein ewiges Auf und Ab, an dessen Ende die bekannte Oasis-Zeile steht: Where did it all go wrong? Wo ging die ganze Sache nur schief? Seine Biografie liest sich stellenweise, als sei sie einem Roman von Hunter S. Thompson entlehnt. Kukin, der schräge Anhalter am Wegrand oder der Verrückte am Tresen, der dir Storys erzählt, die niemand so richtig glaubt, aber egal, noch ’ne Runde, denn die Geschichten sind echt gut.
Drei Dinge konnte Kukin Flores sehr gut: trinken, koksen und Fußball spielen. Sein Reich war der Fußballplatz, sagten seine Fans. Er selbst sagte, sein Reich sei die Nacht. In einer TV-Show gab er mal zu, dass er schon als Kind Drogen genommen hatte, mit Anfang 20 sei er süchtig geworden. Wie er das beim Fußball mit den Dopingproben gemacht habe, wollte der Moderator wissen. Kukin antwortete, das sei sein Geheimnis.
Er litt an paranoider Schizophrenie. Er fühlte sich verfolgt. Sah Echsen und Drachen und andere Fabelwesen. Eine Spaziergängerin fand ihn mal nackt auf der Straße liegend. Sie versuchte ihm aufzuhelfen. „Du bist hier falsch“, sagte sie. „Das ist nicht dein Bett.“ Aber er war bewusstlos. Der Polizei sagte er später, der Ausguss des Waschbeckens hätte sich geöffnet, herausgekommen sei ein Geist, der ihn gejagt hätte. Ein anderes Mal, schon nach der Fußballkarriere, fiel er aus dem vierten Stock eines Hauses. Zeugen berichteten, dass er versucht hatte, über das Fenster in seine Wohnung zu gelangen, weil er seinen Schlüssel vergessen hatte. Er brach sich drei Rippen und zog sich eine doppelten Fraktur im rechten Oberschenkel zu. Cesar„Chalaca“ Gonzales, sein Trainer bei den Sport Boys aus Callao, besuchte ihn im Krankenhaus und sagte:„Gott hat dir eine letzte Warnung gegeben!“ Kukin lächelte ihn an, nickte und machte einfach weiter.
„Er hätte unter anderen Umständen wie Neymar werden können“
Das Leben hatte für Kukin schon nicht besonders rosig angefangen. Als jüngstes von elf Kindern wuchs er in Callao auf, einer Hafenstadt in der Metropolregion von Lima. Schutt und Müll an der einen Kreuzung, Kokain und Heroin an der nächsten, die Polizei traut sich bis heute nicht in einige Gegenden der Stadt. Kukins Eltern hatten sich nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht, seine älteste Schwester kümmerte sich um die Geschwister. Er verdiente schon als Fünfjähriger Geld als Autowäscher. Jugendtrainer Gonzales sagte:„Ich wusste, dass er zu Hause kaum was zu essen hatte. Oft kam er mit kaputten Schuhen zum Training. Er war eine ganz besondere und schwierige Person. Trotzdem habe ich ihn mehr geliebt als jeden anderen. Er hätte unter anderen Umständen wie Neymar werden können.“
Chalaca Gonzales wollte ihm Stabilität und Normalität vermitteln, aber er merkte bald, dass der alte Gangsterrap-Kalenderspruch wahr ist: Du bekommst den Jungen aus Callao, aber Callao nicht aus dem Jungen. Gonzales holte ihn von zu Hause ab, er zahlte sein Mittagessen und brachte ihn in eine Schule. „Chalaca, hast du Geld? Ich möchte mir Gummibärchen kaufen!“, sagte Kukin jeden Morgen.
Er hielt es 20 Tage auf der Schule aus, dann ging er nicht mehr hin. Er hasste Regeln. Er spielte im Mittelfeld, offensiv, ein Zehner, frei, schwerelos beinahe. Wenn er den Ball führte, schwebte er über den Platz, sagten seine Fans. Wenn ihm sein Trainer sagte, spiel so oder so, zeigte er ihnen den Vogel:„Chalaca, du Betrüger, du redest zu viel!“ Und dann machte er es so, wie er es wollte.
Er schaffte es sogar mal nach Europa, 1998/99 spielte er für den griechischen Klub Aris, aber haute wieder ab, als der Trainer ihm etwas von Taktik erklären wollte. In Brasilien spielte Kukin für Paranaense, in Argentinien für Belgrano, er war ein Jahr in Saudi-Arabien bei Al-Hilal. Er scherzte, Pablo Escobar soll ihm, den Kokainsüchtigen aus Peru, mal ein Angebot gemacht haben, um für den Atlético Nacional de Medellín zu spielen. Das wäre ja passend gewesen, fand er. Insgesamt hat er 25 Mal den Verein gewechselt, am Ende landete er immer wieder bei Klubs in Peru, meistens in Callao oder Lima.
Denn auch wenn er sie alle wegstieß, holten sie ihn immer wieder zurück, denn sie wollten ihn ja spielen sehen. Manchmal wiesen ihn Freunde und Bekannte in Kliniken ein, er begann Kuren und Therapien, aber er gab die Behandlungen nach ein paar Wochen wieder auf. Meistens verschwand er still und heimlich, oft spurlos. Als er am Ende seiner Karriere für Colegio Nacional Iquitos spielte, fand ihn der Trainer erst nach fünf Tagen in einer Siedlung wieder. Sie badeten ihn, gaben ihm Kaffee und Wasser, und am Abend spielte er wieder wie von einem anderen Stern.
Angel Cappa, der Universitario 2002 zur peruanischen Meisterschaft führte und auch River Plate trainierte, erinnerte sich an eine Partie gegen den Club Juan Aurich de Chiclayo, für den Kukin spielte.„Kukin trug die Zehn mit Stolz. Ich weiß noch, wie ich einerseits wollte, dass wir ihm den Ball abnahmen, andererseits aber freute ich mich auch, wenn er am Ball war, den sein Spiel war so magisch. Er hatte ein tolles Dribbling, einen harten Schuss. Er war ein intelligenter Spieler, der das Spiel lesen konnte. Er wirkte wie ein Superstar, der keiner war.“
Manchmal aber schlug sein Genie in Wahnsinn um. Als sie 1994 gegen Alianza Lima spielten, beging er ein Foul, das einige Zeitungen mit einem Mordversuch verglichen. Kukin sprang aus vollem Lauf mit gestreckten Beinen in seinen Gegenspieler Paulo„Churre“ Hinostroza. Kukin wurde für drei Monate gesperrt, einige Medien hatten sogar eine lebenslange Sperre gefordert. Auf der Seite peru.com schrieb ein Autor 20 Jahre später:„Es war eine Straftat, und bis heute wissen wir nicht, was der Grund war: Was um alles in der Welt war da los mit Kukin?“ Wenn man sich das Video anschaut, sieht es wirklich aus, als sei, nun ja, der Teufel hinter ihm hergewesen.
Eine weitere Zäsur in Kukins Karriere war der 19. Juli 2000. Er machte damals sein zweites Länderspiel, gegen Kolumbien wurde er in der 55. Minute eingewechselt, die Fans hatten minutenlang seinen Namen gerufen. Er lief aufs Feld, sprach kurz mit seinem Sturmpartner Claudio Pizarro, und dann ging es los. Kukin war damals auf seinem Zenit, 26 Jahre alt, er foppte seinen Gegenspieler Mario Yepes, der ihn verärgert fragte:„Verdammt, wo spielst du eigentlich?“ Und als Kukin sagte, hier bei den Sport Boys in Peru, antwortete Mario Yepes verwundert:„Du spielst in England oder Deutschland oder Spanien. Was ist los mit dir? Verarsch mich nicht!“
Bald, dachte Kukin da, bald würde er ja wirklich in Europa spielen, vielleicht in Belgien. Die Scouts von Anderlecht wollten zum nächsten Länderspiel kommen und 700.000 Dollar Handgeld mitbringen. Nach dem Spiel gegen Kolumbien, das Peru 0:1 verlor, sagte Nationaltrainer Maturana:„Kukin, du warst mein einziger Lichtblick, gegen Uruguay spielst du von Beginn an.“
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er die vier Fans am selben Abend einfach in Ruhe gelassen hätte. Wenn er ins Auto gestiegen und weggefahren wäre. Aber das konnte er nicht, denn er hatte ja seinen Stolz. Er wollte in einem Tankstellenshop noch Bier und Wein kaufen.„Na, willst du die Pleite feiern?“, fragten die Fans, schubsten ihn und traten gegen sein Bein, und da schlug er zurück. Das kommende Qualifikationsspiel gegen Uruguay musste er absagen, sein Oberschenkel schmerzte zu sehr. Er hatte sich bei der Prügelei mit den Fans ernsthaft verletzt.
Als Nationaltrainer Francisco Maturana davon erfuhr, suspendierte er ihn. Nie wieder spielte Kukin für Peru. Und die Scouts des RSC Anderlecht, die nach Südamerika kommen wollten, um sich den neuen Wunderspieler anzuschauen, meldeten sich auch nicht mehr.
Die Woche vor seinem Tod wurde von peruanischen Zeitungen fast minutiös dokumentiert. Der Wachmann seiner Wohnanlage sah ihn am Abend zuvor, am 16. Februar 2019.„Er begrüßte mich. Er wirkte ruhig.“ Und der peruanische Sportjournalist Luis Trisano erzählte, dass er ihn ebenfalls wenige Stunden vor seinem Tod in dem Viertel La Punta getroffen habe. Der Ex-Profi streunte hier nach seiner Karriere oft durch die Gegend. Der Reporter fragte ihn, wie es ihm gehe, und da sagte Kukin, alles super, er habe ein wenig Geld für seine Kinder und Enkel angelegt.„Er sagte es einfach so, als wollte er noch mal klarstellen, dass er für seine Kinder sorgt“, sagte Trisano. „Damals dachte ich mir nichts dabei, nun aber klingt es, als wusste Kukin bereits, dass er sterben würde.“
Bis heute halten sich verschiedene Theorien über seinen Tod. Kukin hatte Kontakte in die Unterwelt. Kannte Dealer, Zuhälter, Sexarbeiterinnen, Mafiatypen. Der Tod erscheint auch so mysteriös, weil Kukins Freundin Liz Contreras nach ein paar Tagen ein Interview gab, in dem sie erklärte, sie hätte den Polizeibericht unter Schock und Druck unterschrieben. In Wahrheit sei in dem ominösen Tütchen kein Kokain gewesen, sondern ihr eigenes tägliches Medikament. Kukin, so sagte sie, hätte einen Krampfanfall gehabt. Kurz vor seinem Tod hätte er sie noch einmal klar und direkt angeschaut, sich aber nicht an ihren Namen erinnern können. Die Staatsanwaltschaft begann danach mit neuen Ermittlungen. Sie sind bis heute nicht abgeschlossen.