Max Kruse wechselt zu Union Berlin. Warum die Verpflichtung des ehemaligen National- und immer noch Pokerspielers für den Klub ein großes Wagnis darstellt, das sich trotzdem lohnen könnte.
Nun ist es also doch nicht Real Madrid geworden, wie es Max Kruse kürzlich auf Instagram ironisch angedeutet, während er in der spanischen Hauptstadt weilte. Auch zu seinem Ex-Verein Werder Bremen führt es den variabel einsetzbaren Offensivspieler nicht. Es geht nach Berlin. Aber nicht zur neureichen Hertha, die zumindest mal kurz über den ehemaligen deutschen Nationalspieler nachgedacht haben soll, sondern zum Konkurrenten aus Köpenick.
Ein Transfer, der vor eineinhalb Jahren noch undenkbar war, vor einigen Monaten unmöglich schien und sich seit einigen Wochen doch angedeutet hatte, ist damit eingetütet worden. Max Kruse wechselt vom Bosporus in die Wuhlheide zum 1. FC Union Berlin. Und das ablösefrei, da zwischen seinem vorherigen Verein, Fenerbahce Istanbul, und Kruse noch Gehaltsforderungen ausstehen sollen. Zudem soll der Angreifer für Union auch finanziell bessere Angebote ausgeschlagen haben, wie Geschäftsführer Oliver Ruhnert in der Pressemitteilung des Vereins sagte: „Dass ein ablösefreier Spieler dieser Qualität viele Optionen hatte und sich trotz wirtschaftlich deutlich höher dotierter Angebote für Union entschieden hat, freut uns sehr und zeigt, dass Union als Club mit anderen Werten punkten kann.“
Welche „andere Dinge“ Max Kruse wichtiger sind, wie es auch Werder Bremens Geschäftsführer Frank Baumann in einem Statement durchklingen ließ, lässt sich nicht genau klären. Vielleicht war es ja das Image von Union. Immerhin sagte Kruse: „Ich bin glücklich mit Union einen coolen neuen Verein kennenzulernen.“ Die Euphorie in Berlin-Köpenick ist in jedem Fall groß. Noch nie zuvor hat ein Spieler mit einem höheren Marktwert (8,5 Mio. Euro laut transfermarkt.de) das Trikot der Eisernen übergestreift. Noch nie hat ein ehemaliger deutscher A‑Nationalspieler, der immer noch einige Jahre im Tank hat, für Union Berlin die Fußballschuhe geschnürt. Kruse erregt Aufmerksamkeit und polarisiert. Wo Kruse ist, sind die Kameras.
Als Typ dürfte er mit seiner Art trotzdem an die Alte Försterei passen. Immerhin setzt er sich für soziale Projekte wie Viva con Agua ein, nimmt in Interviews kein Blatt vor den Mund und vertritt auch unpopuläre Meinungen. Dadurch gilt Kruse als etwas unangepasst, als zum Teil unbequem. Damit ist er nicht immer Everybody’s Darling. Genau wie der Verein, der in Person von Union-Präsident Dirk Zingler zum Beispiel gegen die allgemeinen Beschlüsse des DFL-Hygienekonzeptes stimmte und in Corona-Zeiten eine Vollauslastung des Stadions An der Alten Försterei anstrebt.
Auch in den sozialen Netzwerken wird Union aufgrund des Transfers größtenteils mit Lob überschüttet. Dabei treiben die Aussagen mitunter kuriose Blüten. Während manche Union-Fans schon einen täglichen Kruse-Starschnitt kreiert haben, bei dem jeden Tag ein neuer Teil des Königstransfer preisgegeben wird, fordern andere bereits weitere Wechsel wie die ablösefreien David Silva und Edinson Cavani. Werder-Bremen-Fans fragen dagegen sarkastisch, ob denn nun endlich genug als Dank für die Mithilfe beim Klassenerhalt der Bremer gezahlt wurde, nachdem Union am 34. Spieltag gegen Düsseldorf gewonnen hatte.
Dennoch gibt es auch kritische Stimmen aus der Fanszene der Eisernen. Einige sehen Kruses Social-Media-Inszenierungen kritisch und befürchten, dass er zu viel im Fokus stehen könnte. Und damit das ausgeglichene Mannschaftsgefüge, eine Stärke mit der Union im Abstiegskampf wuchern konnte, ins Wanken bringt. Auch das kolportiert üppigste Gehalt in der Geschichte des Vereins könnte trotz der Zugeständnisse von Kruse noch zu hoch sein. Immerhin muss sich bei den Eisernen wohl niemand darüber den Kopf zerbrechen, dass der leidenschaftliche Pokerspieler Kruse wie einst Ex-Union-Spieler Nico Patschinski an einem Pokerturnier des Erzrivalen BFC Dynamo teilnimmt.
Zuviel außersportliche Ablenkungen kann sich Kruse bei Union trotzdem nicht leisten, da die Eisernen mit ihm versuchen werden einen Stilwechsel der Spielphilosophie vorzunehmen. Letztes Jahr war man das körperlich größte Team der Bundesliga und wählte oft hohe Bälle. Daraus entstanden viele Kopfball- und Standardtore. Schlüsselspieler im System von Trainer Urs Fischer war dabei Sebastian Andersson. Der 1,90 Meter große Schwede schoss mit 13 Saisontreffern nicht nur die meisten Tore in der Premieren-Saison der Eisernen, sondern gewann ligaweit auch die meisten Zweikämpfe. Vor allem da er 260 Kopfballduelle für sich entschied. Über 100 (!) mehr als der Zweitplatzierte.
Andersson, der den Verein eventuell noch aufgrund einer Ausstiegsklausel verlässt, könnte sich aber auch mit Kruse ergänzen. Ein variabel und um Andersson herum agierender Kruse wäre dann die spielerische Komponente, die es vermag, die von Andersson festgemachten Bälle zu verteilen. Unions schnelle Flügelspieler wie Marius Bülter oder die Neuverpflichtung aus Japan, Keita Endo, hätten bei solch einer Konstellation wohl oft viel grüne Wiese vor sich. Insgesamt sollten die spielerischen Elemente im Team mit der zweitschwächsten Passquote der Vorsaison durch den laut spiegel.de „vielleicht spielstärksten deutschen Stürmer“ spürbar ansteigen. Kruse kann mit seinen klugen Pässen und Läufen den Spielaufbau einer Mannschaft entscheidend beeinflussen, das Tempo anziehen oder drosseln und dabei immer noch eigene Torgefahr ausstrahlen.
Doch nicht nur hinsichtlich des Spielsstils wird sich mit der Verpflichtung Kruses die Innen- und Außenwahrnehmung der Eisernen verändern. Unions Außenseiter-Image wird nicht mehr aufrecht zu erhalten sein. Kaum ein anderer Abstiegskandidat verfügt nämlich über einen solch starken Einzelspieler wie Kruse in seinen Reihen. Ein Spieler, der noch eine prägende Rolle in einem Europapokal-Team einnehmen könnte. Auch die durch den Aufstieg eh schon verstärkte Medienaufmerksamkeit dürfte in der beschaulichen Wuhlheide nun neue Ausmaße annehmen.
„Ich bin nicht hier, um mich um das Nachtleben in Berlin zu kümmern“, verkündete Max Kruse bei seiner Vorstellung, um der Angst vor etwaigen Eskapaden direkt den Wind aus den Segeln zu nehmen. Hält sich Unions neue Nummer zehn daran, wird die ungewöhnliche Liason den Fans der Eisernen viel Freude bereiten.