Jahrhunderttalent, schlampiges Genie, Führungsspieler – mit 22 Jahren hat Toni Kroos die Höhen und Tiefen des Fußballgeschäft kennengelernt. Mittlerweile ist er beim FC Bayern München unverzichtbar. Auf den Spuren eines Hochbegabten.
Die Talkrunde „Wir Elf“, eine Internet-TV-Show, ist nicht gerade der Nabel der Fußballwelt. Außerhalb Münchens wird sie nur wenigen Fußballinteressierten ein Begriff sein, und so werden die Worte, die Mehmet Scholl im November 2007 in dieser Runde sprach, landesweit vermutlich verhallt sein. An der Säbener Straße hatte man sie indes vernommen. „Toni Kroos“, sagte Scholl damals, „ist das Beste, was ich je beim FC Bayern erlebt habe“.
Wenige Tage zuvor hatten die Bayern im Uefa-Cup gegen Roter Stern Belgrad gewonnen. Beim Stande von 1:2 war der damals 17-jährige Kroos eingewechselt worden und hatte das Spiel in seinen zehn Minuten Einsatzzeit auf 3:2 gedreht. Unter dem Eindruck des bemerkenswerten Auftritts des A‑Jugendlichen und in der ohnehin launigen Vereinsheim-Atmosphäre des familiären Talks hatte sich Scholl dazu hinreißen lassen, sorglos mit Superlativen um sich zu werfen. Uli Hoeneß wird das nicht unbedingt gefreut haben.
Üppige Vorschusslorbeeren
Bei großen Talenten wiegt die Krone oft besonders schwer. Sebastian Deisler hatte das wenige Monate vor dem Belgrad-Spiel erst auf bedauernswerte Art und Weise erfahren, als der Hochbegabte im Alter von 27 Jahren seine Karriere beendete. Die Leerstelle, die Deisler im Mittelfeld des FC Bayern hinterlassen hatte, schien nun für Kroos bestimmt, und es begannen sich die ersten Züge jenes Hypes zu entwickeln, der Deisler verschluckt hatte. Dass es nicht so kam, ist auch Uli Hoeneß’ Verdienst.
Nun ist Kroos ein anderer Mensch als Deisler, die Vorschusslorbeeren aber waren ähnlich üppig. 2006 kam Kroos von Hansa Rostock nach München, die Bayern ließen sich den 16-Jährigen sagenhafte 2,3 Millionen Euro kosten. Ein Jahr später wurde Kroos zum überragenden Spieler und Torschützenkönig der U17-WM in Südkorea, die anschließende Beförderung zu den Bayern-Profis war nur logische Konsequenz seiner überragenden Klasse im Jugendbereich.
Neben Scholls Lobhudelei im regionalen Internet-TV meldeten sich in der Folge viele weitere Experten an der Säbener Straße. Einhelliger Tenor der Kahns, Gerlands und Hitzfelds: Toni Kroos ist das nächste große Ding beim Rekordmeister. Es schien niemanden zu interessieren, dass derlei Lobeshymnen ein Versprechen darstellen, das erst noch einzulösen ist; und dass oftmals eben solche Lobeshymnen der Grund dafür sind, dass alles doch ganz anders kommt. Gerade beim FC Bayern gibt es genügend Beispiele dafür. Man darf getrost bei Erdal Kilicaslan oder Timo Heinze nachfragen. Letzterer hat kürzlich sogar ein Buch über dieses Thema geschrieben.
„Die 10 bei Bayern ist für ihn reserviert“
Das Spiel gegen Roter Stern Belgrad stellte eine Art Höhe- und vorläufigen Endpunkt in dieser Entwicklung dar. Nach Abpfiff trat ein aufgebrachter Uli Hoeneß vor die Journalisten. Es täten alle gut daran, den Jungen in Ruhe zu lassen, polterte Hoeneß, und er dachte dabei sicherlich auch an Deisler, um den der familiäre Bayern-Manager lange vergebens gekämpft hatte.
Vor Deislers Karriereende hatte Hoeneß allerdings noch ein wenig offensiver über Toni Kroos geredet. „Die 10 bei Bayern ist für ihn reserviert“, sagte er 2006. Damals war der Kroos 16 Jahre alt. Nun, nach dem Spiel gegen Belgrad, drückte Hoeneß auf die Bremse. Er hatte das Talent zur Chefsache erklärt, um ein ähnliches Entgleiten der Dinge beim neuen Mittelfeldjuwel zu verhindern.
Von Klinsmann verkannt?
Hoeneß’ Intervention trug Früchte. Aber die richtigen? Kroos blieb bis zum Ende der Saison Einwechselspieler mit immer wieder überragenden Momenten, der endgültige Durchbruch blieb ihm aber verwehrt. Als sich Jürgen Klinsmann in der Folgesaison anschickte, den FC Bayern zu reformieren und der sportliche Erfolg dabei auf der Strecke blieb, war für Kroos plötzlich kein Platz mehr im Team. Es lässt sich darüber streiten, ob das an Klinsmanns mangelnder Expertise lag, oder nicht auch an Kroos’ laxer Einstellung zum Profisport.
Als Kroos im Winter nach Leverkusen ausgeliehen wurde, schickte ihm Bayerns Amateurtrainer Gerland ein paar warme Worte hinterher: „Kroos hat unglaubliche fußballerische Qualitäten. Aber er muss sie mit Leistungsbereitschaft paaren. Er hat in jedem Spiel Aktionen, bei denen man mit der Zunge schnalzt. Aber dann verliert er den Ball, läuft weiter und fehlt hinten.“ Aus dem Jahrhunderttalent drohte ein schlampiges Genie zu werden. Einer für die schönen Momente des Spiels, der sich aber für die ehrliche Arbeit eines Fußballprofis zu gut ist. Auf den Bolzplätzen der Nation nennt man so jemanden einen Stehgeiger.
Unter Jupp Heynckes in Leverkusen begann Kroos schließlich, sein Versprechen auf den großen Fußball einzulösen. Auch weil der erfahrene Heynckes dem jungen Talent klar machte, dass Qualität ohne Fleiß eben niemals mehr als besseres Mittelmaß sein kann. Kroos begann, nach hinten zu arbeiten, ohne dadurch an offensiver Qualität einzubüßen; eine Qualität, die ihn vom altmodischen Zehner zum vielseitig einsetzbaren Mittelfeld-Allrounder gemacht hat. Diese Entwicklung, die sich auch in überragenden Scorer-Werten niederschlug, nahm man natürlich auch in München wahr. Als sich Leverkusen nach dem anderthalbjährigen Leihgeschäft um Kroos’ Weiterverpflichtung bemühte, kamen aus München klare Signale: „Wir können mit Leverkusen über alles reden“, sagte Hoeneß. „Aber sicher nicht über einen Wechsel von Toni Kroos. Wir wären ja mit dem Klingelbeutel geschlagen.“
Dass im Sommer 2011, ein Jahr nach seiner Rückkehr zum FC Bayern, ausgerechnet sein Förderer Jupp Heynckes Trainer in München wurde, ist wohl einer jener Glücksfälle, die einem Hochbegabten die große Karriere ermöglichen. Heynckes weiß mit Kroos umzugehen.
Bei Bayern und in der DFB-Elf: Unangefochtener Stammspieler
Unlängst sagte Heynckes, wenn Kroos bereit sei, weiterhin an sich zu arbeiten, seien ihm keine Grenzen gesetzt. Tatsächlich ist Kroos mittlerweile unangefochtener Stammspieler, sowohl bei den Bayern als auch in der Nationalelf. Vor allem bei den Bayern lenkt er ruhig hinter Franck Ribery und Thomas Müller das Spiel, ist zuverlässiger Vorbereiter und neuerdings auch auffällig oft Torschütze. Und dennoch hat man immer das Gefühl, dass bei Toni Kroos noch Luft nach oben ist. Auch Kroos selbst scheint sich nicht mehr nur mit seinem Talent zufrieden zu geben: „Ich versuche, immer besser zu werden.“
Bei der derzeitigen Verfassung der Münchener könnte man meinen, dass im Spiel der Bayern sogar der Busfahrer nicht weiter negativ auffallen würde. Aber Kroos ist ein Spieler, der vor allem dadurch hervorsticht, wenn er seine herausragenden Qualitäten nutzt, um seine Nebenleute und so die Mannschaft besser zu machen. Dieses oftmals selbstlose Spiel ist durchaus erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Kroos einst die Nummer „10“ beim deutschen Rekordmeister versprochen wurde und er erst 22 Jahre alt ist.
Wenn alles gut geht, wird Toni Kroos noch elf oder zwölf Jahre Fußball auf Topniveau spielen. Eine lange Zeit, in der er vielleicht wirklich irgendwann mal das Beste sein wird, was man beim FC Bayern München jemals erlebt hat.