Er schlief auf der Straße, um Fußball zu studieren. Seine Vorbilder heißen Bielsa und Guardiola. Chiles Jorge Sampaoli ist die beeindruckenste Trainerfigur der Copa America.
Pep Guardiola ist ein Musterschüler. Mit 13 Jahren kam er in die Jugendakademie des FC Barcelona. Mit 19 der erste Profieinsatz. Zwei Jahre danach Europapokalgewinner. Später ging es direkt auf die Trainerbank. Meisterschaften und Champions-League-Titel pflastern seinen Weg. Heute sehen ihn nicht Wenige als größten Trainer auf Erden. Der oft grübelnde Mitvierziger kann einen geradezu vorbildlichen Lebenslauf vorweisen.
„Wir ziehen in den Kampf“
Guardiola ist längst zum Idol vieler Fußballlehrer seiner Generation geworden. So auch für Chiles Nationalcoach Jorge Sampaoli, der aktuell mit seinem Team bei der Copa América am Start ist. Die ganz große Bühne betrat der Argentinier im vergangenen Jahr. Bei der WM in Brasilien.
Er ging dabei unerschrocken als Anführer seines schon bald gefürchteten Teams voran. „Wir ziehen in den Kampf gegen jeden“, lautet sein Motto. Viele fragten sich, wer denn der Trainer dieser leidenschaftlichen und taktisch herausragenden chilenischen Mannschaft sei. Wo war dieser Sampaoli in den vergangenen Jahrzehnten? Immerhin ist er schon 55.
Sampaoli ist der biografische Anti-Guardiola. Und doch sind sich beide Glatzköpfe heute ähnlicher denn je.
Er trampte zu seinen ersten Spielen
Sampaoli, am 13. März 1960 in Casilda, einem kleinen Städtchen im Norden Argentiniens geboren, verspürte schon früh die Anziehungskraft der großen Metropole Buenos Aires. Er war leidenschaftlicher Anhänger von River Plate. Doch die Familie hatte keineswegs das Geld, um zu den Spielen der „Millonarios“ zu reisen. Stattdessen trampte er allein in die Hauptstadt oder schlich sich ohne Fahrkarte in einen Zug nach Buenos Aires.
Bei den Newell’s Old Boys in Rosario, unweit von seinem Heimatort entfernt, kämpfte er derweil um den Sprung in den Profifußball. Allerdings stoppte ihn ein schwerer Schien- und Wadenbeinbruch im Alter von 19 Jahren. Sampaoli schwor sich: „Nie wieder Fußball.“
Es schien so, als würde er dieses Gelübde nicht brechen. Denn aus dem talentierten Mittelfeldspieler wurde ein Bankangestellter, später ein Friedensrichter in Casilda. Sampaoli kümmerte sich um Trauungen und Geburtsurkunden, statt stundenlang tagtäglich über Fußball nachzudenken. Bis zu jenem Moment, als Marcelo Bielsa erneut in sein Leben trat.
Die Fußball-Obsession
Beide liefen sich bereits in den siebziger Jahren bei den Newell’s Old Boys über den Weg, als der fünf Jahre ältere Bielsa in der ersten Mannschaft spielte. Sein Debüt als Trainer gab er dann 1992 ebenfalls bei Newell’s Old Boys in seinem Geburtsort Rosario, wo heute das Stadion nach ihm benannt ist. Mit einem Schlag war auch Sampaoli wieder angefixt. Abstinenz verwandelte sich in Obsession.
Sein Interesse an Bielsa nahm ungesunde Züge an, wie er selbst zugibt: „Ich sah in ihm eine mythische Gestalt. Ich hörte alle seine Reden. Ich hatte sie auf Kassette und hörte sie mir für gewöhnlich beim Joggen an.“
Später, als sein Inspirator in Buenos Aires tätig war, fuhr Sampaoli die 300 Kilometer mit dem Auto auf der Panamericana durch die argentinische Pampa, nur um Trainingseinheiten zu verfolgen. Er legte sich mit einem gewissen Sicherheitsabstand auf die Lauer und beobachtete per Fernglas jede Aktion.
Das Ideal Bielsa
Jahre später hatte diese Faszination für Bielsa nicht nachgelassen. 2007 verlor er mit Sporting Cristal 0:5 gegen Club América in der Copa Libertadores. Sampaoli war enttäuscht, aber nicht vom Resultat: „Ich wurde seinem Ideal nicht gerecht.“
Doch bevor Sampaoli überhaupt in der Copa Libertadores an der Seitenlinie stehen konnte, startete er seine Karriere zunächst bei kleineren Amateurmannschaften. Die Verantwortlichen seines ehemaligen Klubs Newell’s Old Boys wurden durch einen Zeitungsartikel auf ihn aufmerksam. Der berichtete folgendes: Mitte der neunziger Jahre trainierte Sampaoli einen Verein namens Atlético Belgrano und führte den Klub bald an die Tabellenspitze. Als ihn der Verband wegen ungebührlichen Verhaltens für einige Spiele sperrte, verfolgte der Argentinier die Spiele kurzerhand versteckt in einer Baumkrone am Seitenrand und gab seiner Mannschaft aus luftiger Höhe Anweisungen. Ganz in der Tradition seines Vorbilds Bielsa, genannt „der Verrückte“.
Ein Foto davon erschien in Rosarios Zeitung La Capital. Newell’s Verantwortliche boten ihm prompt den Job beim Farmteam Argentino de Rosario an. Für Sampaoli der nächste Schritt.
Er übernachtete auf der Straße – um Fußball zu sehen
Wie fußballversessen er ist, beweist auch folgende Geschichte: Während seine Laufbahn als Amateurtrainer langsam in Fahrt kam, entschied er sich für eine Studienreise nach Europa. Sampaoli wollte Trainingseinheiten in Spanien und Italien besuchen. Doch sein Budget war eher knapp berechnet. „Manchmal hatten wir nichts zu essen und keinen Ort zum Schlafen.“ Für den Fußballlehrling kein Grund, die Reise abzubrechen. Er übernachtete auf der Straße.
Diese Entbehrungen sollten sich bald auszahlen. Die erste Profistation hatte Sampaoli in Peru. Bei einem Klub namens Juan Aurich in Chiclayo erhielt er einen Lohn von 2500 Dollar – für das gesamte Trainerteam. Später ging es nach Chile und Ecuador. Der endgültige Durchbruch folgte bei Universidad de Chile. Zunächst als „Bielsa für Arme“ verspottet, prägte Sampaoli einen Spielstil, der unweigerlich an Bielsas Mannschaften erinnerte und ihm den Spitznamen „Professor“ einbrachte. „Er konzentriert sich auf Passfußball, analysiert und studiert sehr viel, kopiert auch viele Ideen von anderen Trainern und baut sie um. Bielsa ist hierbei natürlich ein gutes Vorbild“, hat das Sampaolis heutiger Mitarbeiter Matías Manna in einem Interview mit dem spielverlagerung.de mal zusammengefasst.
Es ist ein progressiver Fußball. Sampaolis Spieler sollen dominant auftreten. Dem australischen Fernsehsender „SBS“ erklärte Sampaoli: „Wir glauben, dass du mehr über das gegnerische Tor als über das eigene nachdenken solltest. Du wählst Spieler für den Angriff. Du formst sie, um zu verteidigen.“ Mit dieser Einstellung verhalf er nicht nur „La U“ zu einem Titel in der Copa Sudamericana. So führte er auch in der chilenischen Nationalmannschaft den Weg von Bielsa fort, der dort zwischen 2007 und 2011 tätig war.
Liebe für die Farben
Leidenschaft steht dabei im Vordergrund. „Ich bin davon überzeugt, dass es nur einen Weg zum Erfolg gibt: Man muss die Spieler durch die Liebe zum Spiel zu einer Einheit formen“, so Sampaoli. „Du versuchst eine Liebe zu den Trikotfarben zu entfachen. Wenn man in dieser individualistischen Gesellschaft erfolgreich ist, dann geht das nur durch Bescheidenheit und die Hingabe zu etwas Nichtmateriellen.“
Und wer kennt sich schon besser mit dem Wörtchen Hingabe aus, als eben jener Trainer, der in der Regel fünf Uhr morgens aufsteht, als erster das Trainingsgelände betritt und sich mit allen Aspekten des Sports bis in die Abendstunden hinein beschäftigt. Seine Spieler bleiben davon keineswegs verschont. „Er ist ein sehr guter Pädagoge, er orientiert sich am neuesten trainingswissenschaftlichen Stand und er redet häufig mit den Spielern. Er trifft sich oft mit ihnen, zeigt ihnen Videos, erklärt ihnen taktisches Verhalten“, berichtet Manna.
Das Vorbild heißt nun Guardiola
Sampaoli ist ein Versessener, angetrieben durch Bielsa, aber mittlerweile auf dem Pfad von Pep Guardiola, dem neuen Guru. Passspiel und Ballbesitz stehen nun im Mittelpunkt, wie auch beim Auftakt der Copa vergangene Woche deutlich wurde. Chile dominierte im heimischen Nationalstadion den Gegner aus Ecuador mit 60 bis 70 Prozent Ballbesitz. „Sampaoli kennt die Vorzüge von Guardiolas Spielweise und nutzt darum gewisse Grundaspekte“, so sein Assistent. „Wenn man spielt wie Barcelona, kann man nicht spielen wie Bielsa.“
Guardiola und Sampaoli, sie verbindet eine Idee vom Fußball und der unbändige Hunger nach Erfolg. Doch der Weg bis an die Spitze hätte für beide unterschiedlicher nicht sein können. In Sampaoli schlummert immer noch der rastlose Reisende, der sein letztes Hemd für den Fußball gibt. Auf die Frage, wie er denn gerne in Erinnerung bleiben möchte, antwortete Sampaoli einst: „Als Krieger.“ Und so treten auch seine Spieler auf. Gestern endete die zweite Partie von Gastgeber Chile bei der Copa mit einem aufregenden 3:3 gegen Mexiko. Fußball, wie ihn sich Jorge Sampaoli wünscht.