Thomas Tuchel steht als Trainer zum zweiten Mal in Folge im Champions-League-Finale. Warum? Weil die Schmetterlinge ihm keine Angst mehr machen.
Nach dem Spiel gegen Wolverhampton hatte Tuchel geschworen, dass er aus Chelsea eine Truppe machen würde, gegen die niemand gerne würde spielen wollen. Die offensiven Möglichkeiten waren nach der großangelegten Shoppingtour im Sommer unübersehbar, unter Lampard aber war das Defensivverhalten zur Katastrophe geworden. Tuchel setzte dort an. Aber nicht, indem er Beton anrührte, ganz im Gegenteil. In den ersten zwei Monaten unter ihm hatte Chelsea im Schnitt 63,4 Prozent Ballbesitz. Die Mannschaft drückte dabei den Gegner mit eigenem Ballbesitz ins letzte Drittel, um die Kontrolle über das Spiel zu behalten und kreierte Chancen, indem sie in Umschaltmomenten verlorene Bälle noch in diesem Drittel wiedergewannen und zum Tor zogen. Eine Strategie, die Gegner wie Atletico Madrid völlig erdrückte.
Im Grunde hatte Tuchel nur ausgeführt, was er natürlich auch schon in Mainz getan hatte. „Nach welchen Ideen spielst du hier Fußball?“ Nach seinen. Und Tuchel macht Dinge nicht so, wie man sie im Fußball eben so macht, er macht sie so, wie er es für richtig hält. Als Chelsea im sechsten Spiel gegen Newcastle zur Halbzeit 2:0 führte und damit den fünften Sieg in Folge hätte feiern können, nun aber das Risiko bestand, dass seine Spieler zum ersten Mal unter ihm den Fuß vom Gas nehmen könnten beim komfortablen Vorsprung gegen einen Abstiegskandidaten, griff Tuchel in die Trickkiste. Er bot seinen Spielern in der Halbzeitpause zwei freie Tage an, wenn sie die Führung halten würden. Chelsea gewann 2:0.
Schon in Mainz hatte er als junger Bundesligatrainer betont, dass es unter ihm niemals Fußball von der Stange geben würde. Das Zauberwort: Kontrolle. Wissen, was passieren wird, dem eigenen Plan folgen. Wer dem Ball nur hinterherläuft, wird verachtet. Er betrachtete die Arbeit in den Räumen des Trainerteams als Fußballmanufaktur. Immer auf der Suche nach einer Innovation, nach einer noch besseren Idee, um die Wahrscheinlichkeit zu vergrößern, das nächste Spiel zu gewinnen. „Wir wollen nicht nur den Trainingsinhalt, sondern die Ansprache für den Spieler individualisieren.“ Für Shawn Parker bedeutete das einst, vor der gesamten Mannschaft den Allerwertesten aufgerissen zu bekommen. Für die Spieler des FC Chelsea konnte es bedeuten, zwei freie Tage in Aussicht gestellt zu bekommen.
Warum aber ist Thomas Tuchel seit einem Jahr so erfolgreich? Warum führte er sowohl Chelsea als auch Paris Saint-Germain ins Finale der Champions League? Nun. In seinem ersten Trainerjahr in Mainz gab es eine Zeit, die Tuchel fast zur Aufgabe des Traineramts gebracht hätte, um den Schlaf aber mit Sicherheit. Nächtelang lag er wach, weil die Stimmung in der Stadt umgeschlagen hatte. Das Publikum murrte, die Spieler auch, Tuchel hatte über einen speziellen Part die Kontrolle verloren. Der Mann, der den Fußball gerne in seine Einzelteile zerlegte und jeden Komplex beherrschte, musste sich damit abfinden, dass er manche Dinge nicht würde kontrollieren können. Auch in Dortmund und Paris, so heißt es, tat er sich oftmals schwer mit Autoritäten und Nebenkriegsschauplätzen. Er neige zur Chaostheorie, die besagt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings ein Erdbeben auslosen könne. Demnach ist Fußball eine Zusammensetzung aus Flügelschlägen: Training, Ernährung, Taktik, Emotionen, Erwartungen. Und wenn es möglich ist, dann will Tuchel jeden verdammten Flügelschlag kontrollieren, ist frustriert, wenn das nicht gelingt. Kontrolle ist gut, Kontrolle ist besser.
„Bin ich von mir überzeugt? Diesem Team? Diesem Verein? Ja, ja und ja.“
Vielleicht also sind er und seine Teams ausgerechnet deshalb so erfolgreich. Seit der Coronakrise und dem Fernbleiben der Fans wird die Stimmung in den Stadien bemängelt, erwiesenermaßen ist das Fußballspiel per se aber besser geworden. Spieler fühlen sich ohne die Emotionen von außen nicht mehr zu Aktionen gedrängt, bleiben ruhiger, folgen dem Plan. Chelsea gab dem neuen Trainer nur einen Vertrag über 18 Monate. Die Konsequenz aus einer Lehre, die der Klub lernen musste, nachdem andere Trainer, die entlassen worden waren, ihre laufenden Arbeitspapiere im eigenen Garten aussaßen, während am Monatsende das Gehalt eintrudelte.
Auch Tuchel hat gestanden, dass ihn die kurze Vertragslaufzeit anfangs nachdenklich gemacht habe, mittlerweile aber sagt er: „Wenn ich gut bin, wenn ihnen gefällt, was ich tue, werden sie dafür sorgen, dass ich bleibe. Warum also Sorgen machen? Bin ich von mir überzeugt? Diesem Team? Diesem Verein? Ja, ja und ja.“ Es scheint, als habe er, der immer im Verdacht stand, die Dinge zu zerdenken, gelernt, dass Bauchentscheidungen manchmal besser sind als die mit dem Kopf. „Vielleicht ist es so besser. Im Moment fühle ich mich leicht, fühle ich mich gut.“ In London wird Tuchel für seinen Führungsstil gelobt, dass er auch Ersatzspieler integriere, Nebenschauplätze wie einen Streit zwischen Kepa und Antonio Rüdiger ruhig wegmoderiere. Die üblichen Lobeshymnen, wenn alles nach Plan verläuft. Aber: Mit dieser Art der Entspannung stehen Tuchel und Chelsea nun im Champions-League-Finale. Und im FA-Cup-Finale. So wie vor drei Monaten angekündigt.
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