Thomas Tuchel steht als Trainer zum zweiten Mal in Folge im Champions-League-Finale. Warum? Weil die Schmetterlinge ihm keine Angst mehr machen.
Was ist eigentlich aus Shawn Parker geworden? Er ist vereinslos, seine Statistik: 37 Bundesligaspiele, vier Tore und eine Archivperle, die sogar ins Englische übersetzt wurde. Darauf zu sehen: Thomas Tuchel, als Trainer von Mainz 05, der Parker auf dem Trainingsplatz nach allen Regeln der Kunst zusammenfaltet: „Shawn! Shawn!“, brüllt er nach einem Pfiff in die Trillerpfeife. „Nach welchen Ideen spielst du hier Fußball? Du kommst ins Training und du machst nur, was du willst. (…) Hier noch ein Trick, da noch ein Trick und hier noch ’ne Idee. Und keine einzige klappt.“ Nach 30 Sekunden Rundumschlag schießt Tuchel den Ball ins Nirgendwo und schnaubt verächtlich: „Hier könnt ihr hinterherlaufen. Viel Spaß.“
Spaß dürfte Thomas Tuchel auch am gestrigen Abend gehabt haben. Nachdem seine Mannschaft, der FC Chelsea, das Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid dominiert und 2:0 gewonnen hatte, ins Endspiel des wichtigsten Klubwettbewerbs eingezogen war, schritt Thomas Tuchel aus Krumbach im Kammeltal noch einmal auf den Rasen der Stamford Bridge, als die Flutlichter des Stadions nur noch im Energiesparmodus leuchteten, und schrie seine Freude hinaus. Mit dem zweiten Finaleinzug in zwei Jahren und mit zwei verschiedenen Vereinen ist Tuchel Historisches gelungen. Mehr noch: Mit diesen Leistungen dürfte der 47-Jährige in Zukunft in einem Atemzug mit Jürgen Klopp und Hansi Flick genannt werden, den aktuell besten deutschen Trainern. Mindestens. Kaum zu glauben, dass dieser Mann vor weniger als zehn Jahren seine Zeit damit verbrachte, Mainzer Stürmern wie Shawn Parker die Flausen auszutreiben. Und irgendwie nur logisch.
„Chelsea war eher eine Bauch- als eine Kopfentscheidung.“
Als im Januar Thomas Tuchel vor die englische Presse trat, gerade hatten sie beim FC Chelsea die Klub-Ikone Frank Lampard schweren Herzens nach Hause geschickt, die den Verein zuvor auf den zehnten Tabellenplatz geführt und damit die Chancen auf eine weitere Champions-League-Teilnahme dramatisch minimiert hatte, sprach der Deutsche sofort aus, worum es ginge: „Wenn du bei Chelsea unterschreibst, unterschreibst für den Hunger nach Titeln. Das ist mir völlig bewusst.“ Und weil die englische Meisterschaft in dieser Saison ganz sicher ohne Zutun der Blues entschieden werden würde, zählte Tuchel auf: „Ich bin hier, um um jede Trophäe zu kämpfen, um die wir spielen. Realistisch gesehen ist es in diesem Jahr die Champions League und der FA Cup.“ In England konnten sie sich ihr Lachen vermutlich kaum verkneifen. Entschuldigung, Sir, Ihre Mannschaft hat zwei der letzten zehn Premier-League-Partien gewonnen und sie sprechen von Pokalen? Keine weiteren Fragen.
Es ging ja ohnehin das Gerücht um, Tuchel und sein Team, das an Heiligabend in Paris entlassen worden war, habe sich viel zu wenig mit der neuen Aufgabe beschäftigt. Nur wenige Minuten nach seiner Unterschrift fand eine einstündige Trainingseinheit statt, kurz darauf das Spiel gegen Wolverhampton Wanderers, das 0:0 endete. „Wir haben uns auf dem Flug (von Paris nach London) entschieden, was im Training zu tun ist und wie man gegen die Wolves spielt“, erklärte Tuchel nach dem Unentschieden. Die Flugzeit beträgt etwa 90 Minuten, wenig Zeit, um maßgebliche Entscheidungen zu treffen. „Wir hatten einige Champions-League-Spiele gesehen und hatten einen klaren, wenn auch nicht einen allzu umfassenden Eindruck. Es war nicht so, dass wir uns über Wochen darauf vorbereitet hätten. Vielleicht war es eine gute Sache, dass ich es nicht überdacht habe.“ Und er stellte fest: „Chelsea war eher eine Bauch- als eine Kopfentscheidung.“
Wenig Zeit und doch viel, was sich bereits aus dem ersten Auftritt gegen Wolverhampton ablesen ließ. Chelsea saugte den Ball fast magisch an, spielte 887 Pässe gegen Wolverhampton und hatte 78,9 Prozent Ballbesitz. Eine absurde Statistik, seit Aufzeichnung hatte nie ein Manager in der Premier League zum Debüt solche Zahlen aufgelegt. Und es sollte ja nur der Anfang werden. Seit Tuchel im Januar begann, hat Chelsea nur zwei von 24 Spielen verloren. Nur zehn Gegentore kassiert, fünf davon in einer furchtbar schlechten Partie gegen West Bromwich Albion. Nicht nur, dass Tuchel in dieser kurzen Amtszeit gegen Diego Simeone, Jürgen Klopp, Pep Guardiola, Jose Mourinho und Zinedine Zidane gewann. Abgesehen von Zidanes Team (eins) schoss keiner der Gegner gegen Tuchels Bollwerk auch nur ein einziges Tor. Und Zidanes Mannschaft brauchte für dieses eine Tor zwei Spiele.
Nach dem Spiel gegen Wolverhampton hatte Tuchel geschworen, dass er aus Chelsea eine Truppe machen würde, gegen die niemand gerne würde spielen wollen. Die offensiven Möglichkeiten waren nach der großangelegten Shoppingtour im Sommer unübersehbar, unter Lampard aber war das Defensivverhalten zur Katastrophe geworden. Tuchel setzte dort an. Aber nicht, indem er Beton anrührte, ganz im Gegenteil. In den ersten zwei Monaten unter ihm hatte Chelsea im Schnitt 63,4 Prozent Ballbesitz. Die Mannschaft drückte dabei den Gegner mit eigenem Ballbesitz ins letzte Drittel, um die Kontrolle über das Spiel zu behalten und kreierte Chancen, indem sie in Umschaltmomenten verlorene Bälle noch in diesem Drittel wiedergewannen und zum Tor zogen. Eine Strategie, die Gegner wie Atletico Madrid völlig erdrückte.
Im Grunde hatte Tuchel nur ausgeführt, was er natürlich auch schon in Mainz getan hatte. „Nach welchen Ideen spielst du hier Fußball?“ Nach seinen. Und Tuchel macht Dinge nicht so, wie man sie im Fußball eben so macht, er macht sie so, wie er es für richtig hält. Als Chelsea im sechsten Spiel gegen Newcastle zur Halbzeit 2:0 führte und damit den fünften Sieg in Folge hätte feiern können, nun aber das Risiko bestand, dass seine Spieler zum ersten Mal unter ihm den Fuß vom Gas nehmen könnten beim komfortablen Vorsprung gegen einen Abstiegskandidaten, griff Tuchel in die Trickkiste. Er bot seinen Spielern in der Halbzeitpause zwei freie Tage an, wenn sie die Führung halten würden. Chelsea gewann 2:0.
Schon in Mainz hatte er als junger Bundesligatrainer betont, dass es unter ihm niemals Fußball von der Stange geben würde. Das Zauberwort: Kontrolle. Wissen, was passieren wird, dem eigenen Plan folgen. Wer dem Ball nur hinterherläuft, wird verachtet. Er betrachtete die Arbeit in den Räumen des Trainerteams als Fußballmanufaktur. Immer auf der Suche nach einer Innovation, nach einer noch besseren Idee, um die Wahrscheinlichkeit zu vergrößern, das nächste Spiel zu gewinnen. „Wir wollen nicht nur den Trainingsinhalt, sondern die Ansprache für den Spieler individualisieren.“ Für Shawn Parker bedeutete das einst, vor der gesamten Mannschaft den Allerwertesten aufgerissen zu bekommen. Für die Spieler des FC Chelsea konnte es bedeuten, zwei freie Tage in Aussicht gestellt zu bekommen.
Warum aber ist Thomas Tuchel seit einem Jahr so erfolgreich? Warum führte er sowohl Chelsea als auch Paris Saint-Germain ins Finale der Champions League? Nun. In seinem ersten Trainerjahr in Mainz gab es eine Zeit, die Tuchel fast zur Aufgabe des Traineramts gebracht hätte, um den Schlaf aber mit Sicherheit. Nächtelang lag er wach, weil die Stimmung in der Stadt umgeschlagen hatte. Das Publikum murrte, die Spieler auch, Tuchel hatte über einen speziellen Part die Kontrolle verloren. Der Mann, der den Fußball gerne in seine Einzelteile zerlegte und jeden Komplex beherrschte, musste sich damit abfinden, dass er manche Dinge nicht würde kontrollieren können. Auch in Dortmund und Paris, so heißt es, tat er sich oftmals schwer mit Autoritäten und Nebenkriegsschauplätzen. Er neige zur Chaostheorie, die besagt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings ein Erdbeben auslosen könne. Demnach ist Fußball eine Zusammensetzung aus Flügelschlägen: Training, Ernährung, Taktik, Emotionen, Erwartungen. Und wenn es möglich ist, dann will Tuchel jeden verdammten Flügelschlag kontrollieren, ist frustriert, wenn das nicht gelingt. Kontrolle ist gut, Kontrolle ist besser.
„Bin ich von mir überzeugt? Diesem Team? Diesem Verein? Ja, ja und ja.“
Vielleicht also sind er und seine Teams ausgerechnet deshalb so erfolgreich. Seit der Coronakrise und dem Fernbleiben der Fans wird die Stimmung in den Stadien bemängelt, erwiesenermaßen ist das Fußballspiel per se aber besser geworden. Spieler fühlen sich ohne die Emotionen von außen nicht mehr zu Aktionen gedrängt, bleiben ruhiger, folgen dem Plan. Chelsea gab dem neuen Trainer nur einen Vertrag über 18 Monate. Die Konsequenz aus einer Lehre, die der Klub lernen musste, nachdem andere Trainer, die entlassen worden waren, ihre laufenden Arbeitspapiere im eigenen Garten aussaßen, während am Monatsende das Gehalt eintrudelte.
Auch Tuchel hat gestanden, dass ihn die kurze Vertragslaufzeit anfangs nachdenklich gemacht habe, mittlerweile aber sagt er: „Wenn ich gut bin, wenn ihnen gefällt, was ich tue, werden sie dafür sorgen, dass ich bleibe. Warum also Sorgen machen? Bin ich von mir überzeugt? Diesem Team? Diesem Verein? Ja, ja und ja.“ Es scheint, als habe er, der immer im Verdacht stand, die Dinge zu zerdenken, gelernt, dass Bauchentscheidungen manchmal besser sind als die mit dem Kopf. „Vielleicht ist es so besser. Im Moment fühle ich mich leicht, fühle ich mich gut.“ In London wird Tuchel für seinen Führungsstil gelobt, dass er auch Ersatzspieler integriere, Nebenschauplätze wie einen Streit zwischen Kepa und Antonio Rüdiger ruhig wegmoderiere. Die üblichen Lobeshymnen, wenn alles nach Plan verläuft. Aber: Mit dieser Art der Entspannung stehen Tuchel und Chelsea nun im Champions-League-Finale. Und im FA-Cup-Finale. So wie vor drei Monaten angekündigt.
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