Bei den laufenden Vertragsverhandlungen zwischen Manuel Neuer und dem FC Bayern wurden offenbar gezielt Gesprächsinhalte durchgestochen. Nun steht der Keeper wie ein Raffzahn da. Wie in Zeiten von Corona eine geschäftliche Alltagsangelegenheit zur moralischen Grundsatzfrage wird.
Es gibt in dieser Krise, der manche biblische Ausmaße andichten, noch ganz weltliche Probleme. Zum Beispiel: Wie geht es mit Manuel Neuer beim FC Bayern weiter? Dessen Vertrag läuft bis Juni 2021, doch seit im Januar bekannt wurde, dass zum Sommer Alexander Nübel an die Säbener Straße wechselt, hat die Torwartfrage beim Rekordmeister deutlich an Brisanz zugenommen.
Warum ist das eigentlich so? Manuel Neuer ist viermaliger Welttorhüter, Weltmeister, Champions-League-Sieger, er gewann sieben Meisterschaften, fünf Mal den Pokal und ist bei Jogi Löw trotz einer zeitweise karrierebedrohenden Verletzung in der Saison 2017/18 wieder die unumstrittene Nummer Eins. Er hat die Ruhe und die Erfahrung von fast 400 Bundesligaspielen. Wenn er gesund bleibt, wird er in Kürze in den erlesenen 100er-Klub bei der Nationalelf aufgenommen. Sein Selbstbewusstsein scheint unerschütterlich. Auf den Nübel-Transfer angesprochen, ließ er wissen: „Ich will spielen. Ich bin kein Statist, ich bin Protagonist.“
Soweit, so gut! Neuer ist aber auch 34 Jahre alt. Wie angeschlagen seine Gesundheit ist, weiß nur er selbst und im Zweifel Dr. Müller-Wohlfahrt. Natürlich kann ein Keeper seiner Güteklasse noch einige Jahre auf höchstem Niveau spielen. Doch die Frage, ob er willens ist und auch über die physischen Voraussetzungen verfügt, das Martyrium des Torwartalltags auch in Zukunft klaglos über sich ergehen zu lassen, kann nur er selbst beantworten.
Neuer ist noch einer aus der Generation der 2014er Weltmeister, von denen etliche im Kader des FC Bayern standen. Der Vorstand ist mit diesen Veteranen unterschiedlich verfahren: Philip Lahm beendete rechtzeitig seine Laufbahn, als er gewahr wurde, dass er sein stets hohes Niveau nicht mehr halten kann. Mats Hummels ließen die Münchner dankbar zurück nach Dortmund ziehen. Jerome Boateng wollte der FCB, nachdem dieser plötzlich Flausen im Kopf hatte und in eine Formkrise geriet, ins Ausland veräußern, was wohl an überzogenen finanziellen Erwartungen auf beiden Seiten scheiterte. Dass Boatengs Vertrag nach Juni 2021 noch einmal verlängert wird, ist heute eher unwahrscheinlich.
Bei Thomas Müller sah es lange aus, als sei der Parade-Bajuware nicht nur sportlich, sondern auch als Galionsfigur unverkäuflich. Doch unter Niko Kovac fiel er in Ungnade und wirkte plötzlich wie ein Auslaufmodell. Nun aber hat er doch mit seinem Stammverein bis 2023 verlängert. Bleibt also nur die Frage, wie das neue Bayern-Management bestehend aus Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn mit dem Letzten aus der Klasse von 2014 verfährt: mit Manuel Neuer.
Die Gespräche um seine Vertragsverlängerung laufen seit Monaten. Als Uli Hoeneß noch die Geschäfte führte, kamen Details aus Verhandlungen nur selten an die Öffentlichkeit. Hoeneß wirkte stets in der Überzeugung, dass ein gutes Geschäft nur etwas ist, was beiden Parteien Vorteile bringt. Und wenn unter seiner Ägide doch Interna durchgestochen wurden – Beispiel: zum Auftreten von Louis Van Gaal – erfolgte dies meist in dem Wissen, dass die betreffende Person ohnehin keine Zukunft mehr beim FC Bayern haben würde.
Umso überraschender, dass nun konkrete Zahlen und Daten aus den Verhandlungen mit dem arrivierten Schlussmann öffentlich werden. So soll laut Bild-Recherchen Thomas Kroth, der Berater von Manuel Neuer, bei den ersten Gesprächen mit den Bayern-Granden bis zu 20 Millionen Euro Jahresgehalt brutto für den Fall einer Vertragsverlängerung gefordert haben. Wie genau sich dieser Betrag zusammensetzt, welche Abstufungen, Laufzeiten oder welche Handgelder dieser beinhaltet, wurde nicht vermeldet. Die horrende Zahl jedoch war erst einmal draußen. Zudem will der Kicker erfahren haben, dass Neuer ein Angebot für einen neuen Zwei-Jahres-Vertrag abgelehnt habe, weil ihm offenbar bei den Münchnern eine Laufzeit bis Juni 2025 vorschwebt.
Wer auch immer die Details nach außen gab, es muss jemand sein, der es nicht gut mit Neuer meint. Dass hinter verschlossenen Türen mit harten Bandagen verhandelt wird, wird niemanden verwundern. Zumal es für Neuer um den letzten großen Vertrag seiner Laufbahn geht. Und dass zum Auftakt in derartige Gespräche erst einmal Duftmarken gesetzt und die Dimensionen abgesteckt werden, von denen sich Verhandlungspartner dann sukzessive aufeinander zu bewegen, weiß jeder, der auf einem Flohmarkt schon um Tinnef gefeilscht hat.
Wer es auch war, er/sie musst gewusst haben, dass in Corona-Zeiten eine derart konkrete Summe verstörend wirkt. Zumal die Neuer-Verhandlung in der news-armen Fußballberichterstattung ohnehin schon eine Wucht entfaltet. Die nackten Zahlen lassen den Weltklassekeeper nun wie den Prototyp des raffgierigen Profis aussehen, der sich einen feuchten Kehricht um die tiefen gesellschaftlichen Einschnitte schert, die sich derzeit außerhalb der exklusiven Bundesliga-Blase abspielen.
Zu anderen Zeiten wären solche Meinungsverschiedenheiten eine Fußnote im Ligaalltag gewesen. Bei den Bayern ist es schon lange nicht mehr entscheidend, wie viel der Klub in einen Spieler investiert, sondern für wen das Geld ausgegeben wird. Es gehört zum Selbstverständnis des Vereins, dass jeder auf dem Markt verfügbare Topspieler eine Option für den FCB sein muss. Insbesondere, wenn dieser einen deutschen Pass besitzt. Aus der Perspektive sind sowohl der Nübel-Transfer, als auch ein neuer Kontrakt mit Neuer in der gegenwärtigen Form nachvollziehbar.
In Corona-Zeiten aber geht es nicht allein mehr um den fetten Deal – es geht plötzlich auch um die moralische Frage, ob eine Forderung angesichts der wirtschaftlichen Situation im Fußball und im Land angemessen ist. Besser: Ob sie ethisch vertretbar ist.
Irgendetwas scheint bei den Verhandlungen aus dem Ruder gelaufen zu sein. Wie sonst ist es erklärbar, dass sich der sonst eher wortkarge Neuer nun in einem Interview mit der Bild am Sonntag über mangelnde Wertschätzung bei seinem Arbeitgeber beklagt. Neuer beklagt, Inhalte aus den Verhandlungen mit Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn seien „offenbar gezielt nach außen getragen“ worden. „Das kenne ich so nicht beim FC Bayern“, sagt der Keeper. Und sein Berater Kroth konstatiert, dass sowohl die genannte Gehaltsforderung, als auch der Anspruch auf einen derart langen Kontrakt schlicht falsch seien. „Mir ist doch völlig klar, dass es utopisch ist, den Verein auf einen Fünfjahresvertrag, wie er angeblich im Raum steht, festzunageln,“ so Manuel Neuer, „mit 34 Jahren kann ich ja nicht absehen, wie es mir mit 39 Jahren geht. Darum macht diese Endgültigkeit, die öffentlich suggeriert wurde, ja überhaupt keinen Sinn.“
Über die genauen Hintergründe des Scharmützels lässt sich nur spekulieren. Dass der Keeper nicht unter einem eingeschränkten Selbstgefühl leidet, dürfte bekannt sein. Zudem scheinen Neuer trotz seines Alters belastbare Angebote von anderen Spitzenklubs vorzuliegen, sodass er aus einem Gefühl der Stärke in den Vertragsgesprächen argumentiert. Gut möglich, das einem der Bayern-Bosse Neuers Verhandlungsduktus (oder der seines Beraters) nicht ganz gepasst hat. Es wäre zumindest nicht das erste Mal, dass ein Bayern-Funktionär verschnupft reagiert, weil ein Angestellter zu sehr eigene Vorstellungen hinsichtlich seiner Zukunft in dem Klub entwickelt. Stichwort: Toni Kroos.
Manuel Neuer ist mit dem BamS-Interview um Schadensbegrenzung bemüht. Er sendet ungeachtet der Kritik an dem Umgang seitens der Bayern-Bosse auch die unzweideutige Botschaft, dass er großes Interesse an einer Vertragsverlängerung hat und bereit ist, Entgegenkommen zu zeigen. Doch es geht ihm auch darum, sein über ein Jahrzehnt erworbenes Renommee beim Rekordmeister nicht auf den letzten Metern wieder zu verspielen.
Als er 2011 nach München wechselte, sah er sich über Monate Fanprotesten ausgesetzt, weil viele Anhänger ihm seine polarisierenden Auftritte als Schalker Schlussmann in der Allianz Arena übel genommen hatten. „Koan Neuer“, so die Parole in der Kurve damals. Eine Woge der Antipathie, die durch die gezielten Indiskretionen wieder an Fahrt aufnehmen könnte. Unter den aktiven Bayern-Fans gibt es noch immer einzelne, die ihn für einen verkappten Knappen im Bayern-Schafspelz halten.
Kein Wunder, dass der viermalige Welttorhüter nach einem Jahrzehnt, in dem er jeden erdenklichen Titel mit den Münchnern geholt und mit seinen Fähigkeiten nachhaltig zu den Erfolgen beigetragen hat, auf seinem Standpunkt beharrt.
Für derlei Aktionen hat er: koan Verständnis!