Er galt als größtes Talent der Jugendakademie von Manchester United. Besser als Beckham, mindestens so gut wie Giggs. Dabei wollte Adrian Doherty gar kein Fußballprofi werden, sondern der neue Bob Dylan.
Hundert Fragen schossen mir durch den Kopf. Was war in den zehn Jahren zwischen 1990 und 2000 mit Doherty geschehen? Warum wusste ich so wenig über ihn? Ich war seit einigen Jahren der Chef-Fußballkorrespondent der „Times“, trotzdem war mir – und anscheinend auch dem Rest der Welt – die Geschichte eines Spielers verborgen geblieben, den ein Experte für Uniteds Jugendarbeit so beschrieb: „Wie Ryan Giggs, Cristiano Ronaldo und Andrei Kantschelskis – alle in einer Person.“ Diese und andere Aussagen bekam ich zu hören, als ich mich mit Leuten unterhielt, die Doherty gekannt oder mit ihm gespielt hatten. Sie alle bestätigten Tonges Ansicht, dass Doherty „so gut wie Giggsy“ war. Und je mehr Anekdoten sie über seine Liebe zur Gitarre, seinen ungewöhnlichen Kleidungsstil und seine rätselhafte Persönlichkeit erzählten, desto mehr faszinierte mich die Geschichte dieses großen, verlorenen Talents.
Selbstbewusst, sobald er eine Gitarre hielt
Ich fuhr in seine Heimatstadt Strabane, im Westen von Nordirland, und traf seine Eltern und seine Geschwister. Zu meiner Enttäuschung machte die Familie deutlich, dass sie keinen Artikel oder gar ein Buch über Adrians Leben wünschte, weil sie in ihrer Trauer nicht gestört werden wollte. Aber sie sprachen über ihn. Was mich an jenem Nachmittag am meisten berührte, waren nicht die Geschichten über seine Leistungen im Fußball, sondern über sein Leben abseits des Platzes. Einerseits beschrieb man ihn als schüchtern und zurückhaltend. Andererseits wurde er extrovertiert und extrem selbstbewusst, sobald er eine Gitarre in der Hand hielt. Sein Leben nach dem Fußball habe er zwar unbeachtet und fast vergessen, aber ohne jede Bitterkeit gelebt. Er arbeitete in einer Schokoladenfabrik und vertrieb sich die Zeit mit dem Schreiben von Gedichten und Songs.
Seine Eltern holten einen Ordner hervor, in dem sich viele seiner Texte befanden, darunter ein halbfertiger Roman mit dem Titel „The Adventures of Humphrey and Bodegard“. Die Texte waren über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden, manche hatte Doherty geschrieben, während er bei United war. Ihre Qualität war erstaunlich. Auch in England gibt es das Stereotyp des Fußballers als eindimensionaler Person, der jeglicher intellektueller Tiefgang fehlt. Adrian Doherty war offenkundig das genaue Gegenteil gewesen.
Heimweh
Ich hörte Geschichten darüber, wie der Nachwuchs von United, mit Giggs und Doherty auf den Flügeln, am Samstagvormittag spielte und dann Freikarten bekam, um nachmittags die Profis in Old Trafford zu sehen. Während seine Mitspieler ihre Vorbilder bestaunten, verschenkte Doherty sein Ticket und fuhr mit dem Bus ins Zentrum von Manchester, um in der Fußgängerzone Dylan-Songs oder Eigenkompositionen zu spielen. Ob wohl auch nur einer der Passanten ahnte, dass dieser junge Straßenmusiker bald sein Debüt in der ersten Elf von United geben sollte?
Doch Doherty war nicht allein deshalb anders als Giggs und der Rest seiner Mitspieler, weil er Dylan verehrte und Lieder schrieb, sondern in nahezu jeder Hinsicht. Er litt unter Heimweh und kam mit vielen Aspekten des Lebens als Profifußballer nicht gut klar, vor allem der Rüpelkultur, die in der Kabine herrschte, dem reglementierten Training und dem Druck, ein bestimmtes Aussehen und Verhalten zu haben. Er ließ sich die Haare wachsen und zog sich den Zorn seiner Trainer zu, weil er am Spieltag mit einer Plastiktüte aus dem Supermarkt erschien, in der sich sein Trikot befand. (Er verlor ständig Teile der Ausrüstung, unter anderem die teure United-Sporttasche von Adidas.)
Ein Rad ohne Gangschaltung
„Doc war fast so etwas wie ein Hippie“, sagt Robbie Savage, der ebenfalls in der Jugend von United spielte und sich später einen Namen bei Leicester City machte. „Er war ein Freigeist. Das totale Gegenteil des modernen Profifußballers.“ So war er auch komplett desinteressiert an den normalen Statussymbolen eines Profis. Die ersten Dinge, die er sich in Manchester kaufte, waren eine Gitarre und eine Schreibmaschine. Viel kam nicht hinzu. David Johnson, ein weiterer Mitspieler von damals, sagt: „Wenn man es als Spieler in eine Akademie schafft, besonders in die von Manchester United, dann sieht man viele Jungs, die top gekleidet sind. Neue Trainingsanzüge, neue Turnschuhe – dieses typische Fußballerding, bei dem jeder auf den aktuellen Trend aufspringt.“ Bei dieser Beschreibung denkt man natürlich sogleich an die große Stilikone jener Tage bei ManUnited. Johnson sagt: „David Beckham sah 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche picobello aus. Er hat jeden Penny gespart, um ein Vermögen für ein Hemd ausgeben zu können. Doc trug immer dieselben Klamotten, dieselben Schuhe. Becks kam mit dem Auto zum Training, Doc mit dem Fahrrad. Einem alten Rad. Ich glaube, es hatte keine Gangschaltung“