Er galt als größtes Talent der Jugendakademie von Manchester United. Besser als Beckham, mindestens so gut wie Giggs. Dabei wollte Adrian Doherty gar kein Fußballprofi werden, sondern der neue Bob Dylan.
Ein Lächeln huscht über das Gesicht von Ryan Giggs, als ich ihn an einen außergewöhnlich talentierten Spieler erinnere, mit dem er Ende der Achtziger in den Jugendmannschaften von Manchester United für Aufsehen sorgte. „Wenn man ihn in der Kabine sah, dachte man, der kann nichts“, sagt Giggs. „Denn Doc sah nicht wirklich aus wie ein Fußballer. Er war nicht wie der Rest von uns.“
‚Doc‘ lautete der Spitzname von Adrian Doherty, der in vielerlei Hinsicht nicht so wie der Rest war. „Er war unorthodox in der Art, wie er sich kleidete und wie er sich benahm“, fährt Giggs fort. „Er liebte Musik, er spielte Gitarre – und er war besessen von Bob Dylan. Mit 16 hatte ich keine Ahnung, wer Bob Dylan überhaupt war.“
Ein unfassbares Talent
Doch wenn er die Kabine verließ, dann wirkte Doherty plötzlich gar nicht mehr fehl am Platz. „Sobald er auf dem Rasen stand, war er unglaublich“, sagt Giggs. „Er war der schnellste Spieler, den ich je gesehen habe, und er hatte auch Mumm. Er war ein unfassbares Talent. Unfassbar.“ Nun lächelt Giggs nicht mehr. In seinen Augen schimmert es feucht. Denn die Geschichte von Adrian Doherty ist nicht die typische Parabel von dem Talent, das es nicht geschafft hat. Von denen gibt es viele, gerade in Manchesters Goldener Generation, aus der nicht alle so große Stars wurden wie Giggs oder David Beckham. Das Leben von Adrian Doherty hingegen war anders, wirklich außergewöhnlich.
Ich kann mich an den Moment erinnern, als mich seine Geschichte zu fesseln begann. Es war Anfang 2011. Ich recherchierte für einen Artikel über die Karriere von Giggs, weil es zwanzig Jahre her war, dass er sein Debüt in der ersten Elf gegeben hatte. Dazu sprach ich mit Leuten, die Giggs aus dem Jugendfußball kannten. Ich stellte gerade eine Frage, als mich einer von ihnen – ein ehemaliger Verteidiger namens Alan Tonge – mitten im Satz unterbrach. „Haben Sie schon mal den Namen Adrian Doherty gehört?“, wollte er wissen. Das hatte ich tatsächlich, doch meine Erinnerungen waren vage und ich wusste nicht, was aus ihm geworden war. „Doc war sensationell“, sagte Tonge. „Er war so gut wie Giggsy. Kurz vor seinem Profidebüt hat er sich verletzt. Er hat sich nie davon erholt und driftete vom Fußball weg.“ Dann setzte Tonge hinzu: „Er starb ein paar Jahre später. Ich glaube, er ist in einem Kanal in Holland ertrunken. Niemand weiß es genau. Das ist so traurig.“
Ein Spieler wie George Best?
Kaum war die Unterhaltung beendet, dachte ich nicht mehr an Giggs, nur noch an Doherty. Im Internet war so gut wie nichts über ihn zu finden. Ich entdeckte nur eine Art Nachruf mit ein paar Aussagen von einem ehemaligen Jugendtrainer namens Matt Bradley. Er nannte Doherty „den besten Nachwuchsspieler, den ich in mehr als 30 Jahren als Coach und Scout in Irland gesehen habe“. Auf der Website waren auch zwei alte Zeitungsnotizen. Die erste stammte aus der „Manchester Evening News“ vom 24. März 1990 und lautete: „Manchester United ist im Begriff, den unbekannten 16-jährigen Außenstürmer Adrian Doherty in der ersten Elf einzusetzen. Hinter den Kulissen von Old Trafford traut man Doherty eine Leistung zu, wie man sie nicht gesehen hat, seit einst George Best seine Chance bekam.“ Die zweite Meldung war am 13. Juni 2000 im „Derry Journal“ erschienen. Sie besagte, dass Doherty bei einem Unfall an einem Kanal sein Leben verloren hatte.
Hundert Fragen schossen mir durch den Kopf. Was war in den zehn Jahren zwischen 1990 und 2000 mit Doherty geschehen? Warum wusste ich so wenig über ihn? Ich war seit einigen Jahren der Chef-Fußballkorrespondent der „Times“, trotzdem war mir – und anscheinend auch dem Rest der Welt – die Geschichte eines Spielers verborgen geblieben, den ein Experte für Uniteds Jugendarbeit so beschrieb: „Wie Ryan Giggs, Cristiano Ronaldo und Andrei Kantschelskis – alle in einer Person.“ Diese und andere Aussagen bekam ich zu hören, als ich mich mit Leuten unterhielt, die Doherty gekannt oder mit ihm gespielt hatten. Sie alle bestätigten Tonges Ansicht, dass Doherty „so gut wie Giggsy“ war. Und je mehr Anekdoten sie über seine Liebe zur Gitarre, seinen ungewöhnlichen Kleidungsstil und seine rätselhafte Persönlichkeit erzählten, desto mehr faszinierte mich die Geschichte dieses großen, verlorenen Talents.
Selbstbewusst, sobald er eine Gitarre hielt
Ich fuhr in seine Heimatstadt Strabane, im Westen von Nordirland, und traf seine Eltern und seine Geschwister. Zu meiner Enttäuschung machte die Familie deutlich, dass sie keinen Artikel oder gar ein Buch über Adrians Leben wünschte, weil sie in ihrer Trauer nicht gestört werden wollte. Aber sie sprachen über ihn. Was mich an jenem Nachmittag am meisten berührte, waren nicht die Geschichten über seine Leistungen im Fußball, sondern über sein Leben abseits des Platzes. Einerseits beschrieb man ihn als schüchtern und zurückhaltend. Andererseits wurde er extrovertiert und extrem selbstbewusst, sobald er eine Gitarre in der Hand hielt. Sein Leben nach dem Fußball habe er zwar unbeachtet und fast vergessen, aber ohne jede Bitterkeit gelebt. Er arbeitete in einer Schokoladenfabrik und vertrieb sich die Zeit mit dem Schreiben von Gedichten und Songs.
Seine Eltern holten einen Ordner hervor, in dem sich viele seiner Texte befanden, darunter ein halbfertiger Roman mit dem Titel „The Adventures of Humphrey and Bodegard“. Die Texte waren über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden, manche hatte Doherty geschrieben, während er bei United war. Ihre Qualität war erstaunlich. Auch in England gibt es das Stereotyp des Fußballers als eindimensionaler Person, der jeglicher intellektueller Tiefgang fehlt. Adrian Doherty war offenkundig das genaue Gegenteil gewesen.
Heimweh
Ich hörte Geschichten darüber, wie der Nachwuchs von United, mit Giggs und Doherty auf den Flügeln, am Samstagvormittag spielte und dann Freikarten bekam, um nachmittags die Profis in Old Trafford zu sehen. Während seine Mitspieler ihre Vorbilder bestaunten, verschenkte Doherty sein Ticket und fuhr mit dem Bus ins Zentrum von Manchester, um in der Fußgängerzone Dylan-Songs oder Eigenkompositionen zu spielen. Ob wohl auch nur einer der Passanten ahnte, dass dieser junge Straßenmusiker bald sein Debüt in der ersten Elf von United geben sollte?
Doch Doherty war nicht allein deshalb anders als Giggs und der Rest seiner Mitspieler, weil er Dylan verehrte und Lieder schrieb, sondern in nahezu jeder Hinsicht. Er litt unter Heimweh und kam mit vielen Aspekten des Lebens als Profifußballer nicht gut klar, vor allem der Rüpelkultur, die in der Kabine herrschte, dem reglementierten Training und dem Druck, ein bestimmtes Aussehen und Verhalten zu haben. Er ließ sich die Haare wachsen und zog sich den Zorn seiner Trainer zu, weil er am Spieltag mit einer Plastiktüte aus dem Supermarkt erschien, in der sich sein Trikot befand. (Er verlor ständig Teile der Ausrüstung, unter anderem die teure United-Sporttasche von Adidas.)
Ein Rad ohne Gangschaltung
„Doc war fast so etwas wie ein Hippie“, sagt Robbie Savage, der ebenfalls in der Jugend von United spielte und sich später einen Namen bei Leicester City machte. „Er war ein Freigeist. Das totale Gegenteil des modernen Profifußballers.“ So war er auch komplett desinteressiert an den normalen Statussymbolen eines Profis. Die ersten Dinge, die er sich in Manchester kaufte, waren eine Gitarre und eine Schreibmaschine. Viel kam nicht hinzu. David Johnson, ein weiterer Mitspieler von damals, sagt: „Wenn man es als Spieler in eine Akademie schafft, besonders in die von Manchester United, dann sieht man viele Jungs, die top gekleidet sind. Neue Trainingsanzüge, neue Turnschuhe – dieses typische Fußballerding, bei dem jeder auf den aktuellen Trend aufspringt.“ Bei dieser Beschreibung denkt man natürlich sogleich an die große Stilikone jener Tage bei ManUnited. Johnson sagt: „David Beckham sah 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche picobello aus. Er hat jeden Penny gespart, um ein Vermögen für ein Hemd ausgeben zu können. Doc trug immer dieselben Klamotten, dieselben Schuhe. Becks kam mit dem Auto zum Training, Doc mit dem Fahrrad. Einem alten Rad. Ich glaube, es hatte keine Gangschaltung“
Auch Savage erinnert sich an Doherty als jemanden, der nicht viel brauchte. „Er war glücklich, wenn er einfach nur in seinem Zimmer saß, Musik hörte, Songs schrieb und Gitarre spielte. Ich liebte es, ihm beim Gitarrespielen zuzuhören. Was für ein netter Kerl. Und ich muss sagen: Was für ein Spieler! Er besaß unglaubliches Talent. Es war eine Schande, dass er sich verletzt hat.“ ls es passierte, stand der 17-jährige Doherty – der Dichter mit der Gitarre, der in ausgebeulten Sweatshirts, schlabberigen Jogginghosen und alten Stiefeln herumlief – tatsächlich an der Schwelle zur Glitzerwelt des Profifußballs. Dann zog er sich in einem Spiel der dritten Mannschaft gegen die Reserve von Carlisle United im Februar 1991 eine Kreuzbandverletzung zu. Da Doherty damit außer Gefecht gesetzt war, kam stattdessen Giggs sieben Tage später zu seinem Debüt in der ersten Elf. Von diesem Moment an schlugen die Lebenswege der beiden verschiedene Richtungen ein.
Als Giggs schon Superstar war, wurde Dohertys Vertrag aufgelöst
Damals bedeutete ein kaputtes Kreuzband oft das Karriereende. Bei Doherty kam wohl hinzu, dass die Schwere der Verletzung zu spät erkannt wurde. Er blieb zwar noch zwei weitere Jahre im Verein, doch die meiste Zeit verbrachte er auf der Behandlungsliege oder im Kraftraum. Auch eine Operation brachte keine Besserung. Im Mai 1993, als Giggs schon als Superstar galt, wurde Dohertys Vertrag aufgelöst. Er spielte noch ein wenig in Nordirland, für Derry City, aber Musik war ihm inzwischen vollends wichtiger geworden als Fußball. Schon während seiner Zeit in Manchester hatte er in einer Band namens The Mad Hatters gespielt (unter dem Pseudonym „McHillbilly“) und im Mai 1992, als er immer noch als Profi unter Vertrag stand, war er sogar nach Amerika geflogen, um einen Plattenvertrag zu bekommen. Während sich die Spieler von Manchester United auf eine neue Saison vorbereiteten, verbrachte Doherty fast den ganzen Sommer in New York und spielte in Bars oder auf der Straße.
Doch anders als sein Vorbild Dylan bekam er den Vertrag nicht. Die Hoffnung gab er jedoch nicht auf. Er zog nach Galway, an der irischen Westküste, weil die Stadt als Magnet für Musiker und Dichter bekannt ist. Dort verbrachte er einige glückliche Jahre, in denen er sich mit kleinen Jobs über Wasser hielt, um seine künstlerischen Neigungen auszuleben. Viele der Freunde, die er dort fand, hatten keine Ahnung, dass Manchester United einst große Hoffnungen in diesen jungen Mann gesetzt hatte.
Adrian Doherty haderte nie mit seinem Schicksal. Wer ihn kannte, bewunderte ihn geradezu für sein ausgeprägtes Sonnyboy-Naturell, weil es ihm erlaubte, mit allen Schwierigkeiten umzugehen, die das Leben für ihn bereithielt. Seine Familie und seine Freunde glauben sogar, dass die Jahre nach seiner kurzen Fußballkarriere die glücklichsten seines ebenfalls nur kurzen Lebens waren. Wie dieses Leben endete, darüber gibt es viele Spekulationen. Manche glauben, bei dem Unfall in Den Haag wären Drogen oder Alkohol im Spiel gewesen, doch das klang immer unglaubwürdiger, je mehr ich über Doherty erfuhr. Die holländische Polizei sagte mir, dass sie keinen Hinweis auf Drogen, Selbstmord oder eine Straftat hat. Sie nennt das Ganze „einen Unfall mit einem sehr tragischen Ende“. Als man Doherty aus dem Kanal zog, lebte er zwar noch, doch er erlangte das Bewusstsein nicht zurück. Einen Monat später, am Tag vor seinem 27. Geburtstag, starb er. Dohertys Familie gewann den Eindruck, man hätte ihn danach aus Uniteds Geschichtsbüchern getilgt, als wäre sein Tod ein Makel für den Klub. Jedenfalls tauchte sein Name fast nie mehr auf, wenn es um die großen Talente des Vereins ging. Giggs erklärt sich das durch „eine Art Unbehagen, weil niemand die genauen Umstände kannte“. Erst nachdem die Dohertys ihre Meinung änderten und mir erlaubten, ein Buch („Forever Young“) über ihren Sohn zu veröffentlichen, wurden die Menschen auf Adrians Geschichte aufmerksam.
„Er war definitiv auf meinem Niveau“
Jetzt liest man öfter über den Jungen, „der so gut war wie Giggs“. Ich persönlich glaube das übrigens nicht. Er besaß vielleicht das Talent, aber er hätte nicht die Karriere machen können, wie Giggs es getan hat. Meine Hypothese, die auf den vielen Dingen beruht, die ich über ihn gelernt habe, lautet: Wenn die Verletzung nicht passiert wäre, hätte Doherty sein Profidebüt gegeben und für riesigen Wirbel gesorgt, doch früher oder später hätte er wegen seiner Persönlichkeit und seinem anderen Blick aufs Leben das Interesse am Fußball verloren. Um ihn herum wollten alle der neue George Best sein, er aber wollte viel lieber der nächste Bob Dylan werden.
Ryan Giggs ist da etwas anderer Meinung. „Er war definitiv auf meinem Niveau“, sagt er. „Und er stand ganz eindeutig kurz vor seinem Debüt in der ersten Mannschaft. Wer weiß schon, was passiert wäre, wenn die Dinge sich ein wenig anders entwickelt hätten?“ Nach einer Pause setzt er hinzu: „Wenn ich an Doc denke, dann fühle ich zum einen eine große Traurigkeit, weil er seinen Mitspielern, den Fans und auch sich selbst nicht die große Freude bereiten durfte, die er uns allen sicher gemacht hätte. Die Leute hätten vor Freude gelacht, wenn sie ihn spielen gesehen hätten! Andererseits ist da aber auch die glückliche Erinnerung an sein Talent und an die Persönlichkeit, die er war: ein verrücktes Talent, ein einzigartiger Charakter. Ein Junge, der einfach rausging und spielte.“