Am Sonntag steigt das Abstiegsendspiel zwischen dem VfB Stuttgart und Hannover 96. Doch wie konnte es passieren, dass die Stuttgarter Teil des Schneckenrennens werden? Ein Protokoll der Trauer.
Der Spalter-Vorwurf hat aber noch eine tiefere Ebene: Dietrich war von 2010 bis 2015 Sprecher des umstrittenen Bahn-Projektes „Stuttgart 21“. Wegen der Tieferlegung des Bahnhofs war die Stadt in zwei Lager gespalten, in Projekt-Gegner und ‑Befürworter. Für Letztgenannte gab Dietrich dabei den überzeugten Prellbock, „er teilte die Medien in Freund und Feind und vermutete in kritischen Fragen oft persönliche Angriffe“, schrieb die Stuttgarter Zeitung über seine Rolle als S21-Sprecher.
Als Dietrich dann das Präsidentenamt beim VfB übernahm, wurden viele Witze gemacht über mögliche Parallelen zwischen der Tieferlegung eines Bahnhofs und eines Bundesligisten. Wie sehr das Thema bis heute nachwirkt, zeigt ein Tweet des Grünen-Politikers Cem Özdemir. Als Thomas Hitzlsperger als Reschke-Nachfolger vorgestellt wurde, gratulierte Özdemir bei Twitter wie folgt: „Wünsche gutes Händchen und bin überzeugt, dass das #ObenBleiben gemeinsam gelingt.“ „Oben Bleiben“ war und ist der Schlachtruf der S21-Gegner.
Wie wichtig war Schindelmeiser?
Weitere Vorwürfe in Dietrichs Richtung in nicht alphabetischer Reihenfolge: unpräsidiale Dünnhäutigkeit gepaart mit Nachtreten. Als Dietrich bei einem Fanclub-Treffen kürzlich mal wieder nach den Gründen für Schindelmeisers Demission gefragt wurde, sagte er: „Er war vor seinem Engagement bei uns fünf Jahre ohne Job im Fußball und ist es jetzt seit zwei Jahren wieder. Die Nachfrage nach ihm ist offenbar nicht sonderlich groß.“
In Reschkes Spätphase im vergangenen Herbst signalisierte Jürgen Klinsmann, schwäbischer Nationalheiliger, seine Bereitschaft, beim VfB einzusteigen. Ob als Sportdirektor oder Teammanager, dem Vernehmen nach wäre Klinsmann für eine tragende Rolle bei seinem Herzensverein zu Fuß aus Kalifornien nach Württemberg gepilgert. Auch der Atlantik wäre für diesen Fußmarsch kein Hindernis gewesen – nicht wenige in Stuttgart trauen dem ehemaligen Nationaltrainer, übers Wasser gehen zu können. Dietrich lobte danach den Austausch mit Klinsmann, konkreter wurde die Liaison aber nicht.
Vermutlich hatte der Präsident vor dem Reformeifer Klinsmanns Angst – und das völlig zurecht. Wie sehr der Name Klinsmann in seiner alten Heimat die Gemüter bewegt, zeigte sich zuletzt, als der Wahl-Kalifornier bei einem Heimatbesuch vor zehn Tagen die elterliche Bäckerei bei Instagram in der Frühlingssonne fotografierte. Die Quintessenz der 128 Kommentare unter dem Foto: „Zwei Brezeln, bitte, und einmal den VfB retten.“
Hitzlsperger als einzige richtige Lösung
Diese Aufgabe soll nun Thomas Hitzlsperger übernehmen. Als der 52-fache deutsche Nationalspieler zum Nachfolger von Reschke ernannt wurde, lagen sich wieder wildfremde Menschen bei der Kehrwoche und bei Twitter weinend in den Armen. Wieder waren es Tränen der Freude, wird dem bisherigen Direktor des Nachwuchsleistungszentrums doch zugetraut, den Fußball-Bundesligisten vor dem Abstieg zu retten.
Der stets lesenswerte VfB-Blog „vertikalpass.de“ sprach von einem „Boss-Move von Präsident Wolfgang Dietrich“, schließlich nimmt sich der Präsident mit der Inthronisierung des beliebten Hitzlspergers zumindest vorübergehend selbst aus der Schusslinie. Bleibt abzuwarten, ob sich der Effekt, die Leistungssteigerung des VfB in den Partien gegen Leipzig und Bremen, im Spiel gegen Hannover am Sonntag bestätigen wird.
Übrigens: Die „Rheingeschmeckten“ haben eine neue Heimat gefunden. Und beim Karneval war nach Auswertung aller Bilder das beliebteste Kostüm: die Verkleidung als Sportdirektor. Stilecht mit Reschke-Spiegelsonnenbrille und Kapitänsmütze.
Ingmar Volkmann ist Titel-Autor der Stuttgarter Zeitung.