Kevin-Prince Boateng ist ein deutscher Parade-Legionär. Der Berliner spielte bereits für neun internationale Klubs in Spanien, England und Italien. Im Sommer 2012 trafen wir KPB zu seiner Zeit beim AC Mailand, um mit ihm über sein bewegtes Fußballerleben zu sprechen.
Woran liegt es, dass die Halbwertzeit von Ausnahmespielern wie Ronaldinho oft nur kurz kurz ist?
Ich verstehe ihn zu einhundert Prozent. Er hat drei Jahre auf dem höchsten Niveau gespielt – und alles gewonnen. Was hat ein Mensch da noch für Ziele?
Aber das Leben geht doch weiter. Wünschen Sie sich nicht, in fünf oder sogar zehn Jahren noch auf diesem Niveau zu spielen?
Natürlich, aber Brasilianer stammen aus einem anderen Kulturkreis, bei denen gehört es einfach dazu, am Abend auch mal loszuziehen. Ein cleverer Trainer rät einem Ronaldinho sogar, einmal die Woche feiern zu gehen. Denn er weiß, dass Ronaldinho diese Freiheit auf dem Platz zehnmal zurück bezahlt. Natürlich sollte es nicht so sein, dass er sturztrunken in die Kabine torkelt, aber ein Ronaldinho, der sich wohlfühlt, schießt ein Team fast im Alleingang zum Gewinn der Champions League. Und dazu kommt das Finanzielle, denn auch da hat ein Spieler seiner Kategorie alles erreicht.
Hat ein Fußballer, der nur drei, vier Jahre Top-Niveau gespielt hat, wirklich für alle Zeiten ausgesorgt?
Ronaldinho hat unglaublich viel Geld verdient. Er lebt in einer Festung. Da muss jeder verstehen, dass er mit 27 Jahren sagt: Ich gehe es jetzt mal ein bisschen lockerer an.
Sie hingegen haben in letzter Zeit stark an Ihrem Körper und ihrer Fitness gearbeitet.
In Mailand habe ich am Anfang zwölf Kilo abgenommen, zwei habe ich inzwischen wieder an Muskeln zugelegt.
Wieso waren Sie so viel schwerer?
In England was es anders. Andere Ernährung, fettreicheres Essen. Und ich habe dort auch nicht immer wie ein Profi gelebt, dann nimmt man zwangsläufig zu. Dort lag ich zeitweise über 90 Kilo.
Jürgen Klopp hat gesagt, das Faszinierende an Ihnen sei, dass Sie für eine Situation im Spiel hundert Lösungsideen hätten. Ist diese Handlungsschnelligkeit auf dem Feld im zivilen Leben manchmal von Nachteil, weil Sie eine Entscheidung nicht lang genug abwägen?
Es ist ein schnelles Leben und ein schneller Beruf. Fußball ist ein Tagesjob – es geht schnell rauf und schnell wieder runter.
Dennoch, welchen fußballerischen Moment empfinden Sie rückblickend als Schicksalsschlag?
Schwer zu sagen. Natürlich war die Verbannung aus der U21 ein sehr bitterer Augenblick. Ich sah mich in der Mannschaft und wollte unbedingt mit zur U21-EM. Aber diese Tür schlug vor meiner Nase zu – und mir blieb nichts anderes übrig, als durch eine andere, die sich öffnete, hindurch zu gehen.
Sie meinen, dass Sie kurz darauf bekannt gaben, ab 2010 für Ghana zu spielen. Dabei war der Grund für Ihre Suspendierung eine Lappalie: Sie kehrten von einem Discobesuch während eines Trainingslagers zu spät zurück ins Teamquartier und Coach Horst Hrubesch warf Sie raus.
Naja, da fehlt noch etwas. Ich möchte dazu auch nichts mehr sagen. Alle, die dabei waren, wissen Bescheid. Ich habe meinen Kopf hingehalten und war am Ende der Dumme.
In der Disco soll es zu einer Rangelei gekommen sein, in der Sie schlichtend einschritten. Als Horst Hrubesch Sie fragte, wer dabei war, sollen Sie geschwiegen haben.
Ich hatte mit Herrn Hrubesch immer ein super Verhältnis. Warum es letztlich so gekommen ist, kann ich nicht sagen. Es war seine Entscheidung.
Haben Sie noch einmal mit ihm darüber gesprochen?
Nein. Es ist natürlich ein bisschen schade, aber es ist wie es ist. Damals war ich sehr getroffen, es hat mein Leben verändert. Sie müssen sich das vorstellen: Ich war Kapitän dieser Mannschaft, ich war Stürmer, wir haben am Tag zuvor noch Laufwege trainiert. Wir waren optimistisch, den EM-Titel zu gewinnen – und am nächsten Tag war ich nicht mehr mehr dabei. Doch wenn ich Herrn Hrubesch heute sehen würde, stände nichts zwischen uns. Ich würde ihn sogar zum Essen einladen.
Hätte es keinen Weg zurück gegeben?
Damals war ich überzeugt, dass für mich der Zug abgefahren sei. Vielleicht lag ich falsch damit, womöglich wäre mit Abstand nochmal ein Neuanfang möglich gewesen.
Dabei hätten Sie mit Ihren Fähigkeiten doch perfekt in Löws Mannschaft gepasst.
Das kann niemand sagen. Seit meiner Jugend hatte ich immer nur im Kopf, für Deutschland zu spielen. Dann kam es eben anders – und Ghana bot mir an, die WM als Bühne zu nutzen. Eine Chance, die ich nicht auslassen konnte. Dafür habe ich mich dann mit guten Leistungen bedankt. Es lohnt sich nicht mehr, weiter darüber nachzudenken und sich unnötig Stress zu machen.
Aber Ihre Vita liest sich, als gehöre Stress immer ein bisschen dazu.
Früher habe ich mir selbst viel Stress gemacht, das stimmt. Ich habe mir mit meinem Verhalten und mit Sachen, die ich gesagt habe, immer wieder geschadet. Ich war es, der den Stress verursacht hat. Es hat lange gedauert, bis ich das erkannt habe. Aber heute habe ich mein Verhalten geändert – und deshalb sehen mich die Menschen in Italien auch anders.
Wie ist es dazu gekommen?
Ich habe 2010 den Berater gewechselt und über die Gespräche mit ihm (Roger Wittmann, d.Red.) habe ich angefangen, Zusammenhänge zu erkennen und Dinge anders zu sehen.
Was hat Roger Wittmann Ihnen denn gesagt?
Nicht so außergewöhnliche Sachen, wie Sie jetzt vielleicht denken. Es ging darum, dass ich mich aufs Wesentliche konzentriere, meine Arbeit zuverlässig mache, ans Limit gehe, hart auf mein Ziel hinarbeite.
Wir hätten erwartet, dass es für einen Profi selbstverständlich ist, ans Limit zu gehen.
Aber es existiert jeden Tag ein neues Limit. Welcher 20‑, 21-Jährige hat den Schlüssel zu einer Situation, in der sich sein gesamtes Leben verändert? Plötzlich verdient man viel Geld und viele Menschen klopfen einem auf die Schulter. Man ist ständig mit der Mannschaft zusammen und hört, wie die anderen Spieler leben. Es scheint, als sei das völlig normal. Es ist nicht einfach zu erkennen, dass es nur die sportliche Leistung ist, die einen dorthin gebracht hat, und man dieses Niveau ständig aufs Neue erreichen muss.
Sie kamen sich vor wie Alice im Wunderland?
Ungefähr so. Ich war zwanzig, bekam einen Haufen Geld und die Leuten sagten: Mach mal!
Mike Tyson hat gesagt: „Ich wusste: Ich war zwanzig, Schwergewichtsweltmeister und steinreich. Aber sonst wusste ich gar nichts! Wer war ich? Keine Ahnung!“
Genauso ist es! Man ist gerade volljährig und reich – und hat keine Ahnung, wie man mit der Situation zurecht kommen soll. Wissen Sie, ich hatte auch vorher Berater, die mir sagten, dass ich mich falsch verhalte. Aber da war ich jünger, ich habe es nicht verstanden. Man muss den Schmerz empfinden, um ihn zu bekämpfen. Ein Berater oder ein Verein kann das nicht ständig predigen. Ich wollte immer mehr sein als ein Fußballer. Ich wollte als Persönlichkeit wahrgenommen und respektiert werden. Aber mir war nicht klar, wie ich das schaffe. Inzwischen habe ich den Glauben und das Vertrauen in meine eigenen Stärken gefunden.