An ihm waren sie angeblich alle dran. All die großen Klubs aus Spanien, England, Italien. Doch Dietmar Beiersdorfer und Bernd Hoffmann blieben beharrlich und lieferten sich um Thiago Neves, diesen Wunderspieler aus Curitiba, ein Tauziehen, das es in der Vergangenheit des Klubs so noch nie gegeben hatte. Zumindest nicht so öffentlich.
Wie in der großen DSF-Pokernacht stach das Duo Beiersdorfer/Hoffmann einen Kontrahenten nach dem nächsten aus, zuletzt blieb nur noch Atlético Madrid, der garstige Endgegner. Und je besser die Karten der Hamburger schienen, desto härter konterten die Spanier. Die Nacht wurde lang. Hieß es einmal, Beiersdorfer und Hoffmann hätten sich mit Neves geeinigt, so war in der spanischen Presse fast zeitgleich zu lesen, die Unterschrift auf den Vertragspapieren von Atlético sei „nur noch Formsache“. Ein Geduldsspiel. Die Fans vergnügten sich indessen an Youtube-Best-Of-Videos, die Thiago Neves in seiner ganzen Filigranität und Torgefährlichkeit zeigten. Sie klopften minütlich die Nachrichten im Internet ab, durchforsteten die Agenturmeldungen in den Tageszeitungen – sie fieberten auf die Verkündung hin wie Oppa und Omma in der Vorweihnachtszeit auf den angenehmen Geruch von Lebkuchen und ihre Enkel auf die Playstation unter dem geschmückten Christbaum.
90 Prozent van der Vaart
Als der teuerste Transfer der Vereinsgeschichte tatsächlich unter Dach und Fach gebracht wurde, überschlug sich die Presse. Rafael van der Vaart blieb zwar die Referenz, doch er schien zugleich schneller vergessen, als er aus Hamburg geflüchtet war. „Die Welt“ schrieb, Thiago Neves sei „ein Typ wie van der Vaart“, die „Bild“ fragte investigativ nach: „Wie viel van der Vaart steckt in Neves?“ Der Maestro antwortete selbst: „Er schlägt Freistöße wie ich. Fazit: 90 Prozent van der Vaart.“ Das „Hamburger Abendblatt“ setzte noch einen drauf und veröffentlichte Fotos des Olympischen Fußballturniers, auf denen sich Thiago Neves innig von Ronaldinho herzen lässt, ganz so, als ob beide Spieler in all ihren Zügen komplett identisch seien, ganz so, als ob die Zeit gekommen sei, Neves in eine Reihe mit all den großen Spielern zu stellen, die in den letzten Jahren aus Brasilien nach Europa kamen – neben die Kakás, Robinhos oder Ronaldinhos.
Und tatsächlich liest sich Neves’ Vita ähnlich wie ihre: Neves wurde in der brasilianischen Série A im letzten Jahr mit der „Bola de Ouro“ ausgezeichnet, der Trophäe für den besten Spieler der nationalen Meisterschaft. Noch in diesem Sommer stand er mit Fluminense im Endspiel der Copa Libertadores – er schoss im Cup sieben Tore, vier davon alleine in den Finalspielen gegen den ecuadorianischen Vertreter Liga de Quito. Und im August 2008 holte Neves in Peking die Bronzemedaille mit dem brasilianischen Olympia-Team. Für Beiersdorfer und Hoffmnann genug Gründe knapp acht Millionen Euro an Fluminense zu überweisen – in der Hoffnung auf der Suche nach dem „Typ wie van der Vaart“ fündig geworden zu sein. In der Hoffnung, endlich einen Volltreffer auf der Suche nach einem Brasilianer gelandet zu haben, nach einem, dem man in der „Sportschau“ das Attribut „internationale Qualität“ attestierte und der im „kicker“ am Saisonende zumindest an der Kategorie „Weltklasse“ kratzen würde. Wie so selten in der Vergangenheit.
Es war im Februar 1990 als „Vivian“ sich ankündigte. Klirrende Kälte, und der Orkan fegte bereits über Europa. Im Ruhrgebiet endete der Rosenmontagszug im Gewitterhagel und während sich die Stadt auf eine schwere Sturmflut vorbereitete, liefen sich die HSV-Spieler für die Bundesligapartie gegen Bayer Uerdingen warm. Offiziell waren knapp 15.000 Zuschauer gekommen, vermutlich aber verirrten sich aber nicht mehr als 8.000 auf den Rängen der Betonschüssel im Volkspark, in diesem Stadion, das in jenen Tagen soviel Charme versprühte wie eine verwaiste Satellitenstadt in Omsk oder Nowosibirsk.
Die Namen versprachen Ballartistik
Doch die, die kamen, wurden nicht enttäuscht. Sie sahen ihn spielen. Zaubern. Nando, den „Kühnen“, den „Wagemutigen“ – in der Westkurve projizierten sie all ihre Hoffnungen in den 22-jährigen Brasilianer, und sie waren sich sicher: So einen hatten sie in Hamburg noch nie spielen sehen. Fernando Pereira Pinho Nando. Welch erhabener Name schon. So fremd – nicht fremd wie Jimmy oder Kevin, nicht fremd wie ihnen Spieler aus dem europäischen Ausland erschienen. Fremd dadurch, dass Brasilien Ende der 80er Jahre wirklich noch am anderen Ende der Welt lag. Die Namen der brasilianischen Spieler versprachen immer noch so etwas Ballartistik, Eleganz, auch Aufbruch, Abenteuer, auf eine gewisse Art etwas vollkommen Neues und vor allem etwas, das die Antithese zur biederen Art des eigenen Teams suggerierte.
Der HSV spielte bis dahin eine desaströse Saison. Die Mannschaft stand nach 21 Spielen auf dem 14. Tabellenplatz, nur einen Punkt vor einem Abstiegsplatz. Jan Furtok furchte zumeist alleine durch die gegnerischen Strafräumen, und der junge Oliver Bierhoff oder Andreas Merkle waren in jenen Tagen alles, nur keine so genannten kongenialen Partner für den Polen. Nando, der in der Winterpause verpflichtet wurde, sollte genau das werden. Einige mahnende Stimmen unkten allerdings schon im Januar: der braucht Eingewöhnung. Das schlechte Wetter, die unterkühlten Hamburger, der Kartoffelauflauf. Noch dazu: der erste Brasilianer im Trikot des HSV.
Zu viel Zeit, zu viele Chancen
Doch Fernando Pereira Pinho Nando machte die Kritiker zunächst mundtot. An einem Tag, der jegliche Hamburger Wetter-Klischees erfüllte und zugleich die brasilianische Postkartenidylle mit einem Schauer den Abfluss runterspülte, traf Nando gegen Bayer Uerdingen gleich zweimal. Am Ende der Rückserie standen immerhin vier Tore in elf Spielen zu Buche. Doch schon in der kommenden Saison deutete sich an, dass Nando zu viele Chancen brauchte, um seine Tore zu machen. Er schien dem harten Spiel von Verteidigern wie Uli Borowka oder Guido Buchwald körperlich nicht gewappnet. Dass er trotzdem elf Treffer erzielte, lag einzig an der Spielweise von Thomas Doll, nach dessen genialen Pässen Nando zumeist nur noch den Fuß hinhalten musste.
Als Doll in der nächsten Saison zu Lazio Rom wechselte und Nandos Passgeber plötzlich Armin Eck und Harald Spörl hießen, machte sich der Brasilianer nach weiteren 24 Spielen und mageren zwei Toren auf den Heimweg. In der Westkurve und auf der Haupttribüne wünschten sie ihn eh längst dorthin zurück, wo er hergekommen war. Nando packte seine Koffer – und verließ Hamburg mit leeren Taschen. Seine Ersparnisse soll der Brasilianer – so war es zumindest in der Hamburger Presse zu lesen – aus Angst vor Einbrechern und aus Misstrauen vor Banken, vorsichtshalber in die Wand seiner Wohnung zementiert haben. Als er nun, kurz vor seiner Abreise, die Wand durchhämmerte, kamen ihm die Geldscheine zwischen Putz und Mörtel wie zerbröseltes Knäckebrot entgegen: nicht ein paar Fünfziger, sondern ganze Batzen. Die Zeitungen berichtete von einem „sechsstelligen Betrag“, der durch Nandos Hände rieselte.
Sein Gastspiel in Hamburg hinterließ nach Bekanntwerden dieser Geschichte noch mehr ratlose Gesichter – vor allem bei den rational denkenden hanseatischen Kaufleute in den Logen: Der Brasilianer an sich wurde für sie immer seltsamer, immer unverstehbarer. Da wollten sie doch lieber die biedere Kost, die ehrlichen Grätschen, die pure Vernunft siegen sehen. Sie hatten genug von Haken, Übersteigern, von Capoeira-Tanz auf dem Spielfeld. Auch wenn Nando nur gelegentlich diesen Klischees entsprach – den Herren im Vorstand und Edellogen war das, was sie gesehen und gehört hatten schon zu viel des Guten.
Nachdem kurz nach Nando auch Luis Firminho Emerson in Hamburg scheiterte, ließ man dreizehn Jahre die Finger von Brasilianern. An Erst mit Jean Carlos Dondé wagte man in der Saison 2004/05 einen neuen Versuch, allerdings einen sehr zaghaften: der HSV lieh den Abwehrspieler von Feyenoord Rotterdam aus. Nach der Verpflichtung wurden zunächst wieder eifrig die eigenen Schultern geklopft: „Er ist uns im Januar 2003 bei der Copa America aufgefallen. Da gehörte er zu den besten Spielern der brasilianischen U 20“, jubilierte Dietmar Beiersdorfer. „Mich hat es nicht gewundert, dass Feyenoord mehr als zwei Millionen Dollar für ihn bezahlt hat.“ Dondé bestritt ein Saisonspiel für den HSV.
Die Erwartungen und Hoffnungen, die auf Thiago Neves lagen, waren gewiss andere als bei Dondé. Sie waren vergleichbar mit der Aufbruchstimmung im Winter 1990, vor der Heimpremiere von Nando. Und sie wurden zunächst nicht enttäuscht. Mitte September – Neves war erst seit wenigen Tagen im Training – stand der neue Mittelfeldregisseur im Heimspiel gegen Leverkusen in der Startelf. Er spielte nicht überragend, doch ordentlich: Neves bereitete den Siegtreffer vor. Im nächsten Auswärtsspiel fand sich Neves dennoch auf der Ersatzbank wieder, er verletzte sich, am 10. Spieltag gegen Stuttgart und am 11. Spieltag gegen Hannover wurde er für die letzten Minuten eingewechselt. Immerhin: Er präsentierte neue Schuhe – in gold. Seine neuen Strähnchen – in blond – waren zu dem Zeitpunkt schon wieder ausgewaschen. Die Spiele liefen an ihm vorbei, ein ähnliches Dilemma wie bei Nando: alles ging ein bisschen zu schnell, seine Gegenspieler agierten zu aggressiv, ließen ihm zu wenig Raum. Neves verlor die Lust, bewegte sich lethargisch, wie im Zeitlupentanz zu Fahrstuhlmusik in Dauerschleife.
Das Spiel ist „zu komplex“ für Neves
Nicht nur auf dem Feld eilte die Zeit – auch abseits. Eben noch stand er am Flughafen in Hamburg Fuhlsbüttel, sie empfingen ihn mit Blumen und überreichten ihm das Trikot mit der Nummer 27, der Nummer, die vor einigen Jahren noch Rodolfo Esteban Cardoso getragen hatte. Doch es wurde zu schnell Herbst, dann Winter, es wurde zu schnell richtig ungemütlich für Thiago Neves. Sie würden ihm Zeit lassen, natürlich, sagte Martin Jol anfangs. Doch nun, nach zwölf Spieltagen schon, bekommt Neves die volle Breitseite des Niederländers zu spüren. Vor dem Spiel gegen Dortmund hoffte Neves auf einen Startplatz in der ersten Elf, er sollte für Guerrero als „Verbindungsmann“ zwischen Mittelfeld und Angriff auflaufen. Kurz vor Spielbeginn entschied sich Jol anders. Neves saß wieder auf der Bank, blickte trotzig auf den Rasen. Die Haare frisch gefönt, neue Strähnchen waren nicht zu sehen, immerhin die Schuhe – sie glänzten immer noch.
Nach dem Spiel sagte Martin Jol: „Es wäre zu komplex gewesen, ihn zu instruieren. Er weiß nicht, was es bedeutet, gegen Dortmund zu spielen, sich mit Sebastian Kehl zu messen.“ Erkenntnisse, die ein Trainer einem Profi, der seit zwei Monaten beim Verein ist, der weder Englisch noch Deutsch spricht, eigentlich im Vier-Augen-Gespräch mitteilen sollte. Doch Jol legte gleich nach: „Das Risiko war mir zu groß, Thiago in die Mannschaft einzubauen. Wir sind ja nicht in der Oberliga.“
Keine Geduld beim HSV
Geduld hatten sie in Hamburg mit neuen (jungen) Spielern in der Vergangenheit selten – das war nicht nur bei Brasilianern so. Spieler wie Lauth oder Mpenza spielten zweifelsohne unter ihren Möglichkeiten, bevor sie aber ausgemustert wurden, durften sie sich mehrere Saisons immer wieder versuchen. Bei Neves sieht es nun anders aus: Nach fünf Spielen (davon drei Kurzeinsätze) einem Spieler in einem Halbsatz vor der gesamten Presselandschaft durchzuschütteln, öffentlich zu erklären, dass die Aufgaben, die man an Neves herantrage, „zu komplex“ für ihn seien – dazu gehört schon ein Tischtuch, das weit mehr ist als nur angeschnitten.
Und nun dürfen alle mal kräftig draufzuhauen. Die „Hamburger Morgenpost“, die ein paar Wochen zuvor Neves noch als den neuen Heilsbringer verkündete, sah sich jedenfalls durch diese verbalen Ohrfeigen des Trainers dazu ermutigt am Montag eine „Fettnäpfchen-Akte“ von Thiago Neves zu veröffentlichen, in der sein Verhalten der letzten Wochen protokolliert wird: Da heißt es, Neves ließe sich mit dem Wagen vom Übungsgelände zur Kabine chauffieren, Neves zeige den Fans die kalte Schulter. Das Auffälligste an seinem Spiel sei sein Schuhwerk.
Neves ist auf dem harten Pflaster gelandet. Momentan ist kein Strand drunter, nicht mal eine Blume im rissigen Asphalt. Aus Ankunft wird Abschied, aus 100 wird Null? Es geht verdammt schnell in diesen Tagen. Im erfolgshungrigen Hamburg.