Xavi war der beste Fußballer der Welt, der nie Weltfußballer wurde. Heute wird er 40 Jahre alt. Kein Grund zum Feiern.
Ja, es ist Liebe! Xavi ist so richtig hin und weg von seiner neuen Heimat. Klar, es gibt in Katar keine demokratische Regierung, es gibt nicht mal Parteien oder ein Parlament. Die Lebensbedingungen und Löhne der Arbeitsmigranten sind katastrophal, Menschen- und Völkerrechte werden ignoriert. Aber hey, trotzdem seien alle total glücklich, trotzdem „sind die Menschen sehr zufrieden mit der königlichen Familie, sie haben Fotos des Scheichs in ihren Autos, er sorgt sehr gut für sie.“
Das sagte Xavi vor einigen Monaten in einem Interview, und man fühlte sich direkt an Franz Beckenbauer erinnert, der 2013 nach einer Katar-Visite zum Fazit kam, dass die Situation vor Ort gar nicht so übel sei, wie alle immer behaupten. Er habe jedenfalls „keinen einzigen Sklaven g’sehn, die laufen alle frei rum, weder in Ketten noch gefesselt“. Die paradiesische Halbinsel. La Isla Bonita.
Dann dachte man, ja mei, ja gut äh, das war halt der Beckenbauerfranz. Den Hernandezxavi aber, den hatte man doch ein wenig anders eingeschätzt.
„Tu dir selbst einen Gefallen, und hör auf, dich lächerlich zu machen, lieber Xavi.“
Es hätte alles so schön enden können, wenn Xavi im Sommer 2015 einfach mit dem Fußballspielen aufgehört hätte. Nach 24 Jahren beim FC Barcelona. Nach 769 Spielen, 85 Toren und (circa) 17.239 Vorlagen. Nach acht spanischen Meisterschaften, drei Copa-Siegen, vier Champions-League-Titeln, zwei Klub-WM-Gewinnen. Nach zwei gewonnenen Europa- und einer Weltmeisterschaft. Nach Quintuples, Quadruples, Triples, Doubles. Er hätte sich stilvoll vor hunderttausenden Fans verabschiedet und wäre vom Rasen des Camp Nou direkt in den Himmel der legendären One-Club-Men aufgestiegen, wo Francesco Totti, Ryan Giggs, Paolo Maldini und Lew Jaschin ihn in ihre Mitte genommen hätten. Buenos dias, Maestro.
Nun aber ist er der Typ, der als Katar-Litfaßsäule durch die Gegend dackelt. Nun ist er derjenige, der sich völlig zu Recht von einem Wasserball-Nationalspieler kritisieren lassen muss. „Vielleicht hat es was damit zu tun, dass du ein weißer, heterosexueller und schwerreicher Mann bist“, twitterte Victor Gutierrez. „Katar ist ein absolutistisches Land, in dem Homosexualität, zum Beispiel, mit dem Gefängnis bestraft wird. Tu dir selbst einen Gefallen, und hör auf, dich lächerlich zu machen, jedesmal wenn du ein Mikro vorgehalten kriegst. Nimm die Kohle, aber hör auf, uns hier was zu verkaufen, lieber Xavi.“
Xavi, der heute 40 Jahre alt wird, wirkte immer sehr integer und smart. Vielleicht weil sein Fußball so war: klug, leicht introvertiert und trotzdem fordernd, irgendwie fortschrittlich. Er spielte zwar im Zentrum, aber er war nie ein Spieler, der in den Mittelpunkt drängte. Sein Idol war kein Megastar eines Topklubs. Er bewunderte den Engländer Matt Le Tissier vom FC Southampton. Ein Spieler, der von der Fußballgeschichte gerne übersehen wird und über sich sagte „slighty lazy, but gifted“ – faul, aber talentiert. „Er konnte sieben oder acht Spieler ohne besonderes Tempo ausdribbeln, er spazierte einfach durch sie hindurch. Alle in meiner Familie liebten ihn. Er hätte bei einem großen Team spielen können, aber er blieb immer in Southampton.“ Noch so ein One-Club-Man, der auf ihn gewartet hätte.
Xavi spielte schon als Kind lieber in der zweiten Reihe, erzählte der Vater später. Er kam aus der Tiefe des Raumes. „Alle Jungs wollten nur nach vorne stürmen und selbst ein Tor schießen – außer Xavi. Der hat die Zuspiele geliefert und Gegenangriffe weit vorne gestoppt.“ Alles für das Team, alles für den Klub.
Zwischen 2008 und 2010 war Xavi – trotz Ronaldo, trotz Messi – der beste Spieler der Welt. Er gewann alles, was es zu gewinnen gab. Und er zeigte der Welt, dass Fußball eine Mischung aus Kunst und Mathematik ist. Er malte Pässe, aber er berechnete sie auch.
David Foster-Wallace hat mal einen Essay über den Tennisspieler Roger Federer geschrieben: ein Tennisspiel als religiöse Erfahrung. Niemand beherrsche die plötzliche Wendung, den unerwarteten Konter in einem Ballwechsel, so sehr wie der Schweizer. Foster-Wallace schrieb von einem Federermoment.
Man muss Xavis Spiel nun nicht mit spirituellen Überbau beladen, aber es gab beim FC Barcelona auch diese Momente, Xavimomente. In einigen Partie, wie etwa 2013 in der Champions League gegen Paris Saint-Germain, spielte er nicht einen Fehlpass. Einige Bälle stupste er nur an oder ließ sie abtropfen. Er war wie die Wand, die sich über das Feld bewegte und immer anspielbereit war. Andere Pässe schoss er hart und flach über 20, 30 Meter in den Lauf seiner Mitspieler. Und in dem Augenblick vor dem Pass sah es aus, als würde er das Feld blitzschnell in Raster unterteilen und Wahrscheinlichkeiten berechnen – und dann schickte er den Ball los.