Thomas Müller wurde von einer Lippenleserin entlarvt. Nach dem Champions-League-Aus meckerte der Freigeist deshalb nur noch hinter vorgehaltener Hand. Ein Trauerspiel
Es war das Ende einer Ära. Einige hatten gemutmaßt, dass Pep Guardiolas Zeit bei den Bayern nach dem Halbfinal-Aus gegen den FC Barcelona vorbei sein könne. Doch die Konsequenzen waren von viel größerer Tragweite: Als sich Thomas Müller und Thiago nach dem Schlußpfiff diskutierend auf den Weg in die Kurve machten, konnte der TV-Zuschauer hautnah besichtigen, wie der Fußball in Deutschland ein weiteres Stück an Authentizität eingebüßt hatte.
Die Bayern-Stars hielten sich beim Sprechen die Hand vor den Mund, als würden sie sich gegenseitig vor strengem Döner-Atem oder einem ansteckenden Virus bewahren wollen. Die Geste erinnerte an Harald Schmidt, als dieser in seiner Late-Night-Show noch Michael Jackson verhohnepiepelte. Zum Lachen aber war der Handgriff keineswegs. Die gehörlose Lippenleserin Julia Probst wollte beim Hinspiel entschlüsselt haben, dass Thomas Müller bei seiner Auswechslung unmittelbar nach dem 1:0 der Katalanen in Richtung Trainer motzte: „Kann diese Scheiße aufhören?“. Was Müller genau mit dieser Aussage meinte, konnte die Lippenleserin freilich nicht erkennen. Dennoch schossen postwendend die Gerüchte ins Kraut, ob der Trainer von seinen Stars noch für voll genommen würde. Guardiola, eben noch als Trainergenie gepriesen, stand er plötzlich als Hanswurst da, weil er vermeintlich von einem Führungsspieler ins Benimm gesetzt wurde.
Jeder Halbsatz eine Ansprache an die Nation
Wer je aktiv Fußball gespielt hat, weiß, dass bei einer Auswechslung die Emotionen hochkochen. Meistens reicht der flache Atem noch aus, damit der Kicker seine Unzufriedenheit über die erbrachte Leistung ins Kreisklassenuniversum hinaus brüllen kann. Niemand nimmt in den Untiefen des Amateurfußballs Notiz davon, wenn der Trainer den Ersetzten mit einem aufmunternden Klaps unter die Dusche schickt und man sich später in der Vereinskneipe beim Bier wiedertrifft. Es liegt bei einem ehrgeizigen Typen wie Müller also durchaus nah, dass auch er nur mit sich und der Welt haderte. Im überhitzten Treibhaus des Profifußballs aber wird jeder Halbsatz zur Ansprache an die Nation. Jedes leidige Stöhnen eines Stars im Kontext einer Niederlage zur Bankrotterklärung eines Systems, einer nachhaltigen Vision. Es ist der Wahnsinn.
In der Primera Division, der Premier League, ja sogar in der türkischen Süper Lig sind Lippenleser längst fester Bestandteil der Berichterstattung. Klubs schotten sich in den internationalen Ligen zusehends vor der Außenwelt ab. Pressekonferenzen sind auf ein Minimum reduziert. Einzelinterviews mit Stars und Trainern absolute Ausnahmen. Pep Guardiola hat diese Art des Umgangs mit den Medien auch beim FC Bayern eingeführt. Er hat sich vertraglich zusichern lassen, keine Einzelinterviews geben zu müssen. Über den Erkenntniswert seiner Pressekonferenzen kann sich jeder Fußballfan seine eigene Meinung bilden. Folge dieser sanktionierten Informationspolitik: Sportjournalisten suchen nach anderen Wegen, um den Zustand des Teams zu bewerten. Schließlich müssen jeden Tag die Zeitungsspalten und online die CMS gefüllt werden. Doch weil wirklich belastbare Quellen fehlen, wird der nachhaltigen Recherche die Grundlage entzogen und die Fußballmedien agieren zunehmend aus der Perspektive des Betrachters. Und in dieser Rolle werden plötzlich sogar die Beobachtungen von Lippenlesern zum Fundament für eine umfassende Kaderanalyse.
Erstmals kam das Recherchewerkzeug bei der WM 2006 zum Einsatz, als Lippenleser herangezogen wurden, um herauszufinden, wie Marco Materazzi im Finale Zinedine Zidane zu seinem legendären Kopfstoß provozierte. Im November 2014 kam das Prinzip in der Bundesliga an, als ein Lippenleser erkannt haben wollte, wie Pep Guardiola seinen Angreifer Franck Ribéry anwies, aggressiver auf einen Dortmunder Abwehrspieler zu gehen: „Mit Feuer auf Subotic“, soll der feingliedrige Katalane seinen nordfranzösichen Derwisch angeherrscht haben. Damals wurde die Lippenleserei nicht nur von bayerischer Seite, sondern auch von BVB-Manager Michael Zorc als „affig“ bezeichnet – und man ging zur Tagesordnung über. Nicht zuletzt, weil die Münchner wie ein warmes Messer durch ihre Erstligagegner glitten – und offensives Pressing im Fußball nun mal nicht verboten ist.
In der Krise aber taugt nun jeder unwirsche Schulterblick, jedes leise Gemecker als Nachweis für den Zerfall des FCB-Kaders. Besonders tragisch daran ist, dass ausgerechnet Thomas Müller zum Opfer dieser fragwürdigen Analysemethode wurde. Das bajuwarische Urviech ist einer der wenigen Top-Stars, der über ein weitreichendes Repertoire an rhetorischen Eigenheiten verfügt, in fast jeder Gesprächssituation spontan reagiert und – nicht zuletzt – sich im Gegensatz zu vielen Kollegen kaum um die öffentliche Meinung schert. Kurzum: Müller ist in der Bundesliga-Steppe der Ja-Sager und Angepassten eine echte Marke und damit ein absoluter Glücksfall für die Medien. Dass nun ausgerechnet er durch seinen Gefühlsausbruch bei der Auswechslung indirekt Störfeuer ins eigene Lager gesendet hat und sich in der Folge nicht mehr auf sein herzerfrischend loses Mundwerk blicken lässt, ist ein Drama. Denn die Entscheidung eines Freigeists wie ihm hat Signalwirkung für die Bundesliga. Es wäre ein Jammer, wenn wir in Zukunft auf seine koboldhaften Ausbrüche, sein Lamentieren, seinen unübersehbaren Siegeswillen verzichten müssten.
Zumal Julia Probst keinen Hehl daraus macht, dass gerade Thomas Müller für sie eher schwierig zu entschlüsseln sei. „Der redet Bayerisch, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“, sagt die Lippenleserin. Gehen wir also davon aus, dass er am Ende doch irgendwas in Richtung „Kopf houch, wen da Hois aa dreckad is!“ gesagt hat. Und wenn nicht, schließen wir uns dem Müllerschen Appell an: Lippenlesen – kann diese Scheiße aufhören?