Eigentlich sollte in Brasilien nach dem WM-Debakel gegen Deutschland alles anders werden. Doch die große Reform blieb aus. Stattdessen vertraut das Land darauf, dass Talent alleine reicht.
Wen hat Joachim Löw auf der Trainerbank der Brasilianer nicht alles schon kommen und gehen sehen: Seit der Bundestrainer nach dem Sommermärchen 2006 die Leitung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft übernahm, wechselten sich seine Amtskollegen auf der anderen Seite des Planeten in regelmäßigen Abständen ab. Die Trainer der „Selecao“ seit Sommer 2006 hießen: Carlos Dunga (2006 bis 2010), Mano Menezes (2010 bis 2012), Luis Felipe Scolari (2012 bis 2014), nochmals Carlos Dunga (2014 bis 2016) und schließlich Tite (seit 2016).
Nur einen großen Titel konnten die Brasilianer seitdem gewinnen: In der Hitzeschlacht von Maracaibo fügten sie Argentinien bei der Copa America 2007 in Venezuela eine herbe 3:0‑Finalniederlage zu. Es folgten noch zwei sportlich eher unbedeutende Siege beim Confed-Cup 2009 und 2013. Bei den weiteren Weltmeisterschaften und Südamerika-Meisterschaften blieb der Rekord-Weltmeister aber nur Zaungast, wenn es um die Titelvergabe ging.
83 Pflichtspiele alleine für Flamengo
Was sagt die Fluktuation im vielleicht wichtigsten brasilianischen Amt neben dem des Staatspräsidenten aus: Es fehlt an einer langfristigen Strategie und einem nachhaltigen Konzept. Jedes Mal, wenn die Selecao wieder einmal ein Turnier vorzeitig beendete, war der Trainer Schuld und die Kommentatoren überboten sich an Forderungen. Bessere und nachhaltige Nachwuchsarbeit, eine Entzerrung des Spielbetriebs, Qualitätssteigerung in der Ausbildung.
Doch als Carlos Dunga genau das nach dem WM-Debakel 2014 anmahnte, stand der Kapitän der Weltmeistermannschaft von 1994 allein auf weiter Flur. Die mächtigen Fernsehanstalten, deren Top-Journalisten im Nebenberuf auch gerne mal Spieler vermitteln, bestehen auf die Terminhatz. Flamengo, Rios Traditionsverein, kam so im vergangenen Kalenderjahr auf sage und schreibe 83 Pflichtspiele in den vielen Wettbewerben, die der brasilianische und südamerikanische Fußball so zu bieten hat. Zum Vergleich: Der FC Bayern mutete seinen Kickern gerade mal knapp über 50 Klub-Pflichtspiele zu.
Dabei geht es auch anders. Kaum ein Projekt hat der brasilianischer Fußball-Verband in den letzten Jahren so gefördert wie die Mission „Olympia-Gold 2016“. Prompt gelang mit einer klugen Vorbereitung und viel Rücksicht der A‑Nationalmannschaft der Triumph von Rio de Janeiro. Doch weil Dunga zugunsten der Olympia-Auswahl während der WM-Qualifikation auf den diesmal wieder überdurchschnittlich talentierten Nachwuchs verzichtete, blieben die Ergebnisse in der Selecao aus. Dunga bezahlte seine Rücksicht mit seiner Entlassung.
Als Tite nach dem Schiffbruch bei der Copa America 2016 das Ruder übernahm, konnte er auf die neue Spielergeneration „Gold“ bauen. Er flocht die Talente in die Nationalmannschaft ein und kann nun die Früchte der Aufbauarbeit ernten.
Der Fußball ist durchzogen von Korruption
Obendrein wurde der brasilianische Verband auch von dem Korruptionsskandal rund um den südamerikanischen Verband „Conmebol“ erschüttert. Die letzten drei Präsidenten standen entweder auf der Fahndungsliste der Ermittler oder sitzen schon im Knast. Diese Mentalität des bedingungslosen Auspressens prägt den brasilianischen Alltags-Fußball. Die Spieler, die nicht zu den vielen hundert Talenten zählen, die jedes Jahr aus Brasilien in den Rest der Welt verkauft werden, müssen ein Pensum absolvieren, das seinesgleichen sucht. Die Politik, die das regulieren könnte, ist selbst von Korruption durchsetzt. Die großen Träume Brasiliens, nach der WM 2014 und Olympia 2016, zur sportlichen und politischen Supermacht der Südhalbkugel aufzusteigen, versanken im Morast der brasilianischen Korruption.
Und trotzdem macht die aktuelle Selecao wieder Hoffnung. Weil der Fundus an Talenten aus den bettelarmen Favelas einfach so groß ist, dass in dem Riesenreich alle paar Jahre eben doch aus dem Nichts ein neuer Neymar oder ein neuer Gabriel Jesus emporsteigt. Die Generation Gold von Rio de Janeiro 2016 hat wieder dieses Gewinner-Gen. Und mit Trainer Tite hat sie einen Coach, der sich nur auf das konzentriert, was er auch wirklich beeinflussen kann. Den Kampf für eine tiefgreifende Reform des brasilianischen Fußballs müssen andere ausfechten. Nach der nächsten großen Enttäuschung klappt es dann ganz bestimmt.