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Seite 4: „Glückwunsch, Gemeinderat, ihr habt gerade Millwall getroffen“

Im letzten Jahr kamen immer mehr frag­wür­dige Ein­zel­heiten über das Pro­jekt ans Tages­licht. Die Besitz­ver­hält­nisse von Renewal waren ver­schach­telt, und schließ­lich stellte sich heraus, dass es sich bei einem der Fir­men­gründer um den ehe­ma­ligen Bür­ger­meister von Lewisham han­delt. Der aktu­elle Vor­stands­vor­sit­zende des Unter­neh­mens hatte eben­falls in der Bezirks­ver­wal­tung gear­beitet. Außerdem sollte hier öffent­li­ches Land an eine Firma gehen, die noch nie ein sol­ches Pro­jekt betreut hat. Immer lauter regte sich der Wider­stand, ange­facht von einer Social-Media-Kam­pagne der Mill­wall-Fan­klubs.

Wie aus der Zeit gefallen

Es fühlt sich an wie etwas, das das Herz der modernen bri­ti­schen Gesell­schaft berührt“, sagt Nick Hart, der in Ber­mondsey lebt und einen Mill­wall-Pod­cast betreibt. Man wird von mys­te­riösen Gebilden regiert. Man weiß nicht, wer sie sind. Ihre Besitzer leben in Steu­er­oasen auf der anderen Seite der Welt. Und doch bestimmen ihre Ent­schei­dungen dar­über, was mit etwas pas­siert, das mir und vielen anderen am Herzen liegt – ein klapp­riger, alter Fuß­ball­verein in Ber­mondsey. Das fühlt sich unge­recht an. Als würde man von einer gesichts­losen Macht her­um­ge­schubst.“ Bei einem Pokal­spiel im Januar 2017 fingen Fern­seh­ka­meras die Pro­teste ein und der öffent­liche Druck wurde so groß, dass das Pro­jekt erste Risse bekam. Schließ­lich nahm der amtie­rende Bür­ger­meister von Lewisham, Steve Bul­lock, die Ent­eig­nung zurück. Der Jubel war laut und fast ungläubig.

Es fühlte sich aber nicht an wie ein Sieg, eher wie eine Waf­fen­ruhe in einem Krieg, der wenig mit Fuß­ball zu tun hat, dafür viel mit Geld, Gemein­schaft und Gen­tri­fi­zie­rung. Mill­wall ist ein Klub, der nach wie vor aus der Zeit gefallen wirkt. Ein Ort jen­seits der schönen neuen Welt, ein Ort der Men­schen, die nie­mand mehr will: weiße Männer mitt­leren Alters mit Glatze, die nicht mit­spielen und nicht weg­gehen wollen, die aber trotzdem irgendwo leben müssen.“ Die Leute sind fas­zi­niert, wenn sie hören, dass du Mill­wall-Fan bist“, meint Hart. Dann sagen sie: Aber du wirkst so normal und nett.‘ Es ist wie im Theater. Jedes Stück braucht einen Bösen auf der Bühne, den man aus­buht, damit man sich gut fühlt. Dabei ist es völlig egal, dass es reine Phan­tasie ist. Etwas, das auf Sachen beruht, die vor langer Zeit pas­siert sind.“ In der Tat hängen die Schatten der dunklen Hoo­ligan-Jahre noch immer über Mill­wall. Als Bür­ger­meister Bul­lock die Ent­eig­nung aufhob, twit­terte jemand mit Bezug auf die Visi­ten­karten, die Hoo­ligan-Gruppen angeb­lich neben ihren blut­be­schmierten Opfern zurück­ließen: Glück­wunsch, Gemein­derat, ihr habt gerade Mill­wall getroffen.“

Prü­ge­leien im Nie­mands­land

Die Legende sagt, dass der moderne Fuß­ball-Hoo­li­ga­nismus bei einem Spiel von Mill­wall ent­standen ist: 1965 in Bour­ne­mouth, als eine Hand­gra­nate aufs Feld flog (die sich als Attrappe her­aus­stellte) und die Zuschauer sich inner­halb und außer­halb des Sta­dions schlugen. Dass Mill­wall-Fans sich bald einen fins­teren Ruf erprü­gelten, hatte auch mit Ber­mondsey zu tun. Wäh­rend der Sieb­ziger und Acht­ziger war es ein furcht­ein­flö­ßender Ort, eine ver­armte Ecke im Süd­osten Lon­dons, deren enge Gassen und dunkle Pubs an ein Nie­mands­land erin­nerten und das Gefühl her­auf­be­schworen, mitten in einer Groß­stadt von der Gesell­schaft zurück­ge­lassen worden zu sein.

Im Jahre 1977 pro­du­zierte die BBC eine Doku­men­ta­tion über den Anhang von Mill­wall, deren Ziel es war, eine Ver­bin­dung zwi­schen den Fans und der Neo­nazi-Partei National Front“ nach­zu­weisen. Der Film zeigte auch, wie enorm iso­liert, unge­wöhn­lich elo­quent und – ja – extrem brutal die Haupt­ak­teure der Mill­wall-Firms waren. Damals gab es drei Ebenen der Mill­waller Hoo­ligan-Maschi­nerie. Eine Gruppe, die sich F‑Troop“ nannte, bestand aus Fuß­sol­daten, die für ihre extremen und oft völlig unver­mit­telten Aus­brüche von Gewalt im Sta­dion, in öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln oder in irgend­einem nichts­ah­nenden Stadt­zen­trum gefürchtet waren. Ende der Sieb­ziger sorgten nur vier dieser F‑Troopers dafür, dass auf der Heim­tri­büne von Charlton Ath­letic eine Mas­sen­panik aus­brach und 2000 Zuschauer flucht­artig das Weite suchten, bis der kom­plette Block men­schen­leer war. Die Nach­wuch­shools waren der­weil als Halfway Liners“ bekannt, sie träumten davon, ent­weder den Auf­stieg zur F‑Troop“ zu schaffen oder sich gar der schil­lerndsten Mill­wall-Firm anzu­schließen. Das war The Tre­at­ment“, deren Mit­glieder Chir­ur­gen­masken trugen, um ihre Iden­tität zu ver­bergen.

Die neue Fuß­ball­welt ist nicht auf­zu­halten

Der Tief­punkt war im März 1985 erreicht, als hun­derte von Mill­wall-Fans den Rasen des Sta­dions von Luton Town stürmten. 81 Per­sonen wurden ver­letzt, dar­unter 31 Poli­zisten. Der eng­li­sche Fuß­ball jener Zeit war ver­giftet, er erstickte an seiner eigenen zor­nigen Raserei. Es folgten die Unglücke von Heysel im glei­chen Jahr und 1989 Hills­bo­rough – Ver­wer­fungen, denen die alten Zeiten nicht stand­halten konnten.

Die neue Fuß­ball­welt, ein Kind der boo­menden Frei­zeit­branche, lukra­tiver Fern­seh­ver­träge und der Grün­dung der Pre­mier League, war nicht mehr auf­zu­halten. Eine Welt moder­ni­sierter Sta­dien, die große Teile der tra­di­tio­nellen Fan­szene nicht mehr von innen sehen, weil sie es sich nicht leisten können. Der Fuß­ball ver­än­derte sich, so wie die Gesell­schaft und die Stadt. Nur wenige Kilo­meter ent­fernt vom milden indus­tri­ellen Elend, das The Den“ umgibt, steht der mit kata­ri­schem Geld gebaute Wol­ken­kratzer The Shard“, in dem eine Pent­house-Suite 60 Mil­lionen Euro kostet.