Seit 25 Jahren hat Ebby Kleinrensing kein Spiel von Nottingham Forest verpasst – obwohl er in Duisburg lebt. Doch das Reisen fällt immer schwerer.
Dieser Text stammt aus 11FREUNDE #251, unserer aktuellen Ausgabe. Das Heft bekommt ihr am Kiosk eures Vertrauens oder hier bei uns im Shop.
Im Trent Bridge Inn hält Eberhard Kleinrensing, den jeder „Ebby“ nennt, Hof wie ein Pate. Immer wieder kommen in dem riesigen Pub in der Nähe des Stadions von Nottingham Forest Leute zu Ebby an den Tisch und begrüßen ihn. Der steht nicht auf und dreht ihnen nicht mal den Kopf zu. Aber Ebby ist kein Don, es würde ihn einfach zu viel Kraft kosten aufzustehen, und den Kopf kann er nur noch minimal zur Seite bewegen. Außerdem hat er für alle nur freundliche Worte, die allerdings auch eine herzliche Beleidigung sein können. „You twat“, begrüßt er einen alten Kumpel, der aus der Bezeichnung „Volldepp“ pure Liebe heraushört. Manche sehen in dem Mann in der braunen Lederjacke, die genauso über und über mit Aufnähern von Nottingham Forest besetzt ist wie seine Kappe und sogar seine Sandalen, auch ein Orakel. „Bleiben wir denn in der Premier League?“, fragt etwa Francis, der zu den Spielen von Forest extra aus Nordirland anreist. „Ja, klar“, sagt Ebby, und Francis reißt kurz die Faust hoch, als hätte seine Mannschaft tatsächlich schon den Klassenerhalt geschafft.
In Nottingham ist Ebby weltberühmt, 1998 wurde er von den anderen Forest-Fans zum „Fan des Jahrhunderts“ gewählt. Ein Abdruck seiner Hand kam ins englische Fußballmuseum. Wie man das halt mit Stars macht. Eine kleine Berühmtheit hätte er auch in Deutschland sein können. Die damals neuen TV-Talkshows wollten den verrückten Typen alle haben, zwanzig Einladungen schlug er aus. Aus jener Zeit gibt es aber eine Fernsehreportage über Groundhopper, in der auch Ebby vorkommt. Ein Kamerateam trifft ihn erst zu Hause in Duisburg, begleitet ihn dann vom Flughafen Düsseldorf nach Birmingham, auf der Weiterfahrt nach Nottingham und von dort im Bus zum Auswärtsspiel nach Sheffield. Wir erfahren, dass er 40 bis 50 Mal im Jahr hin- und herpendelt und dafür rund 40 000 Mark ausgibt. Vor dem Stadion, so sehen wir in der Doku, schüttelt Ebby dann Hände wie eine Berühmtheit, und als er den Gästeblock betritt, wird er mit Sprechchören gefeiert. Ebby winkt zurück und hält nach dem Spiel noch eine donnernde Ansprache an die mitgereisten Fans. Klassischer Fall von Showman aus der Kurve.
Doch gerade jetzt, wo Forest nach 23 Spielzeiten endlich wieder zurück in der Premier League ist und die Ebby-Show weltweit senden könnte, ist sie fast vorbei. Mit 62 Jahren kann er nicht mehr aufspringen, um eine Kurve zu unterhalten. Das Rheuma in den Knien, das ihn schon sein ganzes Leben plagt, ist zu heftig geworden. Vor einigen Jahren wurde zudem Morbus Bechterew diagnostiziert, noch eine rheumatische Erkrankung, bei der die Wirbelsäule immer steifer wird. Nur unter größten Anstrengungen kann er ein paar Schritte laufen. Seit gut vier Jahren sitzt Ebby im Rollstuhl.
Im Pub kommt einer herüber, der etwas älter ist und schon länger zu den Spielen von Forest geht. Er sagt: „Es ist halt eine Sucht.“ Ebby nickt. Aber stimmt das überhaupt? Ist er wirklich ein Süchtiger? Natürlich will er kein Spiel verpassen, so unbedeutend es auch sein mag. Ebby hat eine viel einfachere Antwort, warum er das alles macht. „Ohne Forest hätte ich ein trostloses, langweiliges Leben gehabt“, sagt er und verzieht das Gesicht etwas abschätzig. Dann setzt er achselzuckend hinterher: „Kaufmann …“ Als würde das alles erklären.
Er hat Groß- und Einzelhandelskaufmann gelernt, nachdem er in der Schule vier Mal sitzengeblieben war. Nach der Lehre wechselte er bald in die Straßenbaufirma seines Vaters, der auch Fußballfan ist, von Bayern München. Der Vater und seine Mutter unterstützten ihn, als Ebby sein Leben in ein ewiges Abenteuer zu verwandeln begann, in eine nie endende Reise zum nächsten Spiel von Nottingham Forest. Erste Station war 1978 Liverpool, wohin er fuhr, weil er im „Kicker“ über den Klub gelesen hatte, der überraschend zum ersten Mal in seiner Vereinsgeschichte englischer Meister geworden war. 18 war er und hatte komisch romantische Vorstellungen von diesem Klub: „Ich dachte, die spielen in Robin-Hood-Trikots.“ Das war natürlich Quatsch, aber Forest warf an der Anfield Road Titelverteidiger Liverpool, das Überteam jener Jahre, aus dem Europapokal der Landesmeister. Um Ebby aus Duisburg war es geschehen.
Wobei er seine Liebe anfangs noch zwischen dem MSV Duisburg und Nottingham Forest teilte. Vom MSV hat er 400 Spiele gesehen, folgte dem Klub quer durch Deutschland, aber 1993 war Schluss damit. Er hätte es eigentlich schon früher wissen können, als er im Block F des Duisburger Wedaustadions mit dem Ohr am Weltempfänger saß, um die BBC-Fußballübertragungen aus England zu hören, statt sich auf das Spiel der Zebras zu konzentrieren. „Es war nicht geplant, dass Forest mein Lebensinhalt wird. Aber ab Mitte der Neunziger gab es nur noch ein Ziel: für jedes Spiel kämpfen.“ Nach der Wahl zum Superfan sowieso, nun spürte Ebby eine Verpflichtung.
Es ist irre, wohin ihn das gebracht hat: in zwanzig Länder, sogar bis nach Japan. Das Finale im Weltpokal 1981 hat er gesehen und natürlich die Europapokalsiege in den beiden Jahren zuvor. Vom Finale 1979 gegen Malmö, das in München stattfand, fuhr er nachts mit dem Zug zurück, um morgens pünktlich bei der Arbeit zu sein. Das Hin und Her zwischen Deutschland und England war eine logistische Meisterleistung in einer Zeit vor dem Internet, als es noch kompliziert war, Züge und Flüge zu buchen oder mitzubekommen, dass ein Spiel verlegt oder abgesagt worden war. Das wirkliche Abenteuer bestand im Grunde darin, möglichst viele Hindernisse zu überwinden im Kampf um jedes Spiel.
Die anderen Fans feierten ihn, wenn er es tatsächlich immer wieder schaffte, sich wie der große Houdini aus den Ketten zu befreien. Als im April 2010 der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull den Flugverkehr in Europa lahmlegte, erwischte Ebby gerade noch den letzten Fährplatz von Calais nach Dover. Mitten in der Nacht kam er in Nottingham an, um drei Stunden später in den Bus nach Blackpool zu steigen. Der Leiter des dortigen Ordnungsdienstes sagte: „Ebby, mit dir haben wir nicht gerechnet.“ Aber er hatte es wieder mal geschafft, der Teufelskerl.