Heute wird Franz Beckenbauer 75. Jahre alt. So umstritten er mittlerweile als Funktionär ist, so unbestritten sind seine sportlichen Leistungen als Spieler. Bloß: Wie gut war Beckenbauer wirklich? Eine Analyse.
Psychologisch betrachtet war Beckenbauer für die Bayern und für die Nationalmannschaft somit tatsächlich ein ungemein wichtiger Spieler. Er profitierte dabei zudem von optimalen Bedingungen. Da war einmal die weitaus geringere Athletik und die im Vergleich zu heute zeitlupenhaft wirkende Langsamkeit des damaligen Spiels, die ihm eine lässige Nutzung von Freiheiten erlaubte, da Ballverluste, anders als im heutigen Tempo-Umschaltspiel, nicht umgehend bestraft wurden. Dazu kamen taktische Zwangsjacken. „Taktisch gesehen habe ich damals die Schwachstellen in der Manndeckung ausgenutzt“, sagte Beckenbauer selbst. Hätten die Gegner damals schon Raumdeckung gespielt, hätte er niemals so viele Freiheiten in der Offensive gehabt. Niemand hielt ihn auf bei seinen Läufen, weil jeder Gegner seinen Mann abzuschirmen hatte; solche Aktionen wären heute nicht mehr möglich, weil im ballbezogenen Verschiebe-System der den Raum deckenden Defensivketten alle paar Meter einer im Weg steht.
In der Entwicklung der Fußballtaktik gab es also ein kurzes Zeitfenster, in dem ein Libero-Kaiser regieren konnte. Es war zugleich ein besonderes kulturhistorisches Zeitfenster, in dem sich der Fußball vom Arbeiter- zum Mittelschichtssport wandelte und sich beim Publikum wie bei den Medien eine neue Form von Heldensehnsucht und Heldenbedarf bemerkbar machte.
Im gesellschaftlichen Aufbruch Ende der 1960er Jahre befreiten sich die Kicker vom Makel des Proletentums, tumbes Rackern und Grätschen allein genügte einem neuen, sozial breiter gefächerten Publikum nicht mehr. Der Unterhaltungswert des Gebotenen und ästhetische Beurteilungskriterien wurden im aufkommenden Star-Kult der sich entwickelnden Erlebnisgesellschaft immer wichtiger. Im Nationaltrikot konnten balltechnisch begabte Spieler wie Beckenbauer und Netzer genialische Tupfer setzen und damit der Welt demonstrieren, dass auch Deutsche zum Künstlerischen taugen. Oder wie die „FAZ“ das ausdrückte: „In der Position des Liberos, die er recht eigentlich schuf, verdichteten sich Sehnsüchte, die das Land der Opel Asconas und Ford Capris ansonsten nur schwer einzulösen vermochte.“ Und, ganz wichtig: Alles geschah zu einer Zeit, als die Bildung von Mythen noch problemlos möglich war, weil die technischen (Fernseh-)Mittel fehlten, sie eventuell zu entlarven.
Des Kaisers Karriere vollzog sich also in schönster Harmonie mit dem Zeitgeist. Folgt man Thomas Städler, dann gab es eine weiterte Besonderheit, von der Beckenbauers Star-Image geprägt war: „Man durfte an ihm sein Expertentum demonstrieren. Gerade wenn man kein Bayernfan war, machte es sich sehr gut, wenn man als ‚objektiver Fußballfachmann‘ Beckenbauers Sonderklasse lobte. Endlich war es Hunderttausenden vergönnt, so geheimnisvolle Dinge wie Stellungsspiel und Spielaufbau zu erkennen und kennerisch mit der Zunge zu schnalzen.“ Ob das, was man als Expertenwissen von sich gab, mit den objektiven Gegebenheiten korrelierte, war dann im Prinzip gar nicht mehr entscheidend: Es zählte der Effekt des Wortgeklingels. Die Intellektuellen neigten zum so genannten „linken“ Sturm-und Drang-Fußball Günter Netzers und verpönten den so genannten „rechten“ Effektivitätsfußball der Bayern der späten Siebziger, konnten aber trotzdem in einer seltsamen gedanklichen Verknotung nicht umhin, der dazu gar nicht passenden „Diva“ Beckenbauer einen Ausnahmestatus zuzugestehen.