Heute wird Franz Beckenbauer 75. Jahre alt. So umstritten er mittlerweile als Funktionär ist, so unbestritten sind seine sportlichen Leistungen als Spieler. Bloß: Wie gut war Beckenbauer wirklich? Eine Analyse.
Christoph Bausenwein, Jahrgang 1959, beschäftigt sich als Autor schon seit langer Zeit mit dem Thema Fußball. Kürzlich ist sein neues Buch erschienen – über das Leben von Franz Beckenbauer. Das Buch findet ihr hier.
Das Finale von 1974 war auch das Duell zwischen den beiden Stars Franz Beckenbauer und Johan Cruyff. Nicht Beckenbauer, sondern der Superstar aus den Niederlanden wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt. Doch wen kümmerte das schon? „Johan war der bessere Spieler, aber ich bin Weltmeister“, kommentierte der Kaiser mit lässigem Schulterzucken. Bei der Wahl zu Europas Fußballer des Jahres 1974 wurde er „nur“ Zweiter hinter König Johan, bei der Wahl zum Weltfußballer des Jahrhunderts 1999 „nur“ Dritter hinter Pelé und eben Cruyff. Der Kaiser hatte kein Problem damit, nur der Drittbeste zu sein. Jedem, der es hören wollte, erzählte er, dass Pelé der beste der Welt sei, und auch im Fall Cruyff war er so frei und souverän, von sich aus zu behaupten, dieser sei der beste Europäer aller Zeiten gewesen, sogar der „perfekteste Spieler“, den er je gesehen habe.
Franz Beckenbauer hat alle Titel gewonnen, die es im Fußball zu gewinnen gibt, und wenn er nicht der Allerbeste gewesen sein mag, so steht wohl außer Zweifel, dass er absolute Weltklasse war, einer der ganz Großen der Welt. Und dennoch kann man mal, wenigstens versuchsweise, einige Fragen stellen: War er wirklich so gut? Kann man seine Qualität eigentlich beweisen? Und was kommt heraus, wenn man seinen Status als Superstar aus unterschiedlichen Blickwinkeln kritisch betrachtet?
In einem „Zeit“-Artikel (Überschrift: „Die großen und die kleinen Stars“) widmete sich der Psychologe Thomas Städler im Jahr 1986 der erstaunlich selten gestellten Frage, wie gut Franz Beckenbauer als Fußballspieler denn nun eigentlich war. War er ein für die Siege seiner Mannschaft entscheidender Spieler? Hatte er eine überragende Spielübersicht und ein außergewöhnliches Stellungsspiel? War er einer der größten Techniker des Fußballs?
Im Gegensatz zu Gerd Müller, dessen Tore sich zählen lassen und dessen spezifische Qualitäten vor dem Tor – die überraschenden und extrem kurzen Wendungen vor dem Abschluss – sich in vielen Filmausschnitten nachvollziehen lassen, ist es im Fall Beckenbauer kaum möglich, die Effektivität seines Spiels objektiv nachzuweisen. Hat er besonders viele Tore verhindert? Das kann man heute nicht mehr beurteilen, denn damals existierten noch keine Datenbanken wie heute, in denen jeder Spielerfurz dokumentiert wird. Hat er besonders viele Tore bei seinen Vorstößen als Libero vorbereitet? Laut transfermarkt.de waren es in 14 Jahren und 424 Bundesligaspielen 69 Vorlagen und 44 Tore. Um das einzuordnen: Ein als eher durchschnittlich wahrgenommener defensiver Mittelfeldspieler wie Hacki Wimmer, der bei Gladbach Günter Netzer abschirmte, brachte es in 366 Spielen auf 41 Vorlagen und 51 Tore. Das heißt: Beide waren in der Offensive etwa gleich effektiv, und brachten es im Schnitt in jedem vierten Spiel auf ein Tor oder eine Torvorlage. Man kann gegen diesen Vergleich einwenden, dass Wimmer über die gesamte Spieldauer näher am gegnerischen Tor operierte als Beckenbauer, aber die Daten haben doch eine gewisse Aussagekraft hinsichtlich der Effektivität des Liberos.
Hat sich Beckenbauer in besonderer Weise als Spielgestalter hervorgetan? „Einer denkt, die anderen rennen“, lautete nach Günter Netzer die Definition des klassischen Spielmachers, der die Bälle an die anderen verteilt. Hierzu ist grundsätzlich zu fragen, ob der so genannte Regisseur einer Mannschaft überhaupt früher denkt als der Mitspieler, den er „einsetzt“. Reagiert er nicht vielmehr auf den Mann, der die Spielsituation mitgedacht hat und sich dann entsprechend freiläuft? Ein Beispiel: Im Finale von 1974 lief sich Bonhof zuerst auf dem rechten Flügel frei – dann kam der Pass von Grabowski. Wenn sich auf das Armerudern des Spielmacher-Liberos Beckenbauer hin jemand in Bewegung setzte, dann konnten daraus in der Regel keine gefährlichen Situationen entstehen, da das Kommende für den Gegner ganz offensichtlich war. Wenn es hingegen gefährlich wurde, dann musste der Angespielte immer mindestens genauso viel Regieanteil daran haben wie der Passgeber.