Das EM-Finale hat schon viele Anekdoten und Geschichten geschrieben. Eine Auswahl haben wir hier zusammengestellt. Mit dabei: Abstürzende Paraglider, wodkalastige Saufgelage und Ruud Gullit als Bandleader.
1.
„Gegner per Fernsehen studiert!“, empört sich die „Fußballwoche“ vor dem Finale 1964 und ist lesbar entsetzt. Was war passiert? Nun, Endspielteilnehmer Sowjetunion hatte sich das Halbfinale zwischen Spanien und Ungarn in gemeinsamer Runde auf einem Schwarzweiß-Fernseher angeschaut. Ein technischer Vorteil der gewitzten Sowjets? Nicht unbedingt: Das Finale gewann schließlich Spanien mit 2:1. Gibt es eigentlich eine Heatmap von diesem Spiel?
2.
Den Platzsturm deutscher Fans kurz vor dem Abpfiff des Endspiels 1972 im Brüsseler Heysel-Stadion kommentierte der „kicker“ gewohnt griffig: „85. Minute: Welche Landplage! Unbeherrschte deutsche Schlachtenbummler stürmen schon aufs Feld!“ Aber es hat ja noch immer alles jot jejange: Deutschland gewann bekanntlich mit 3:0. Die Sowjetunion verzichtete auf den Gang vors Sportgericht.
3.
Fannähe anno 1972: Vor dem Finale klingelte die 18-jährige Angelika Busch von der deutschen Schule in Brüssel im DFB-Teamhotel durch – und zwar direkt im Zimmer von Günter Netzer. Der nahm nach dem dritten Versuch ab, plauschte ein wenig und ließ sich auch noch zu einer privaten Autogrammstunde überreden. Was würde wohl Harald Stenger dazu sagen?
4.
In unserem EM-Spezial erinnert Tim Jürgens an die Sangeskünste von Uli Stielike nach dem EM-Finale 1980. Stielikes Hit auf dem Heimflug: „Der Nippel“ von Mike Krüger. Direkt nach dem Finale hatte Stielike noch ganz andere Songs auf Lager, zum Beispiel den Soundtrack von „Heidi“. Ebenfalls ein Goldkehlchen: Hans-Peter Briegel, der nicht nur eigenen Whisky mit in die nächste römische Kneipe schmuggelte (Begründung: „Die Preise sind doch hier viel zu hoch!“), sondern auch noch ein kerniges Liedchen anstimmte. Auszüge: „Wir sind die Tramps, Tramps, Tramps aus der Pfalz, uns steht das Wasser immer bis zum Hals!“ Episch.
5.
Als die Kamera im Finale 1984 bei der Marseilleise die französischen Nationalspieler abfuhr, wunderten sich die Zuschauer: Dieser verbissene Blick! Diese verkniffenen Augen! In der Kabine hatte Kapitän Michel Platini seine Kollegen angeherrscht, während der Hymne nur den Pokal zu fixieren. Mit Erfolg. Die Équipe Tricolore wurde Europameister, Platinis Mittelfeldrolle stilbildend für den modernen Spielmacher. Die sich in ihren Lobeshymnen überschlagende Presse prägt sogar den Begriff vom Platinismus.
6.
Den Sieg im Endspiel 1988 zu München nutzte Ruud Gullit für ein politisches Statement und sprach sich gegen das südafrikanische Apartheit-Regime aus. Nicht ganz solidarisch indes Kollege Marco van Basten: „Ich bin nicht Gullit. Ich widme diesen Sieg meiner Familie, meiner Mutter – und nicht Herrn Nelson Mandela in Südafrika.“ Bei den Feierlichkeiten waren beide Stars dann wieder vereint: Gullit bespielte die Elftal mit seiner Reggae-Band, van Basten soll, so Augenzeugen, mit dem Fuß gewippt haben.
7.
Vor dem EM-Endspiel 1988 verbreitete der niederländische Rundfunk, es gebe noch 25 000 Karten. Sofort setzten sich die holländischen Wohnwagen in Bewegung, nur um 900 Kilometer später vor dem Münchener Olympiastadion festzustellen: Schade, ausverkauft. Der Schwarzmarkt trieb seine Blüten, vierstellige Preise wurden aufgerufen. Zum letzten Zufluchtsort für alle Fans ohne Karte mauserte sich ein Zelt vor dem Stadion, in das sich 600 Fans drängelten. Weitere 2000 harrten davor aus. Und im Zelt: Zwei kleine Röhrenfernseher. Die Anfänge des Public Viewing.
8.
Acht Paragleiter schwebten vor dem Finale 1992 in Göteborg ins Ullevi-Stadion ein, der letzte von ihnen trug die deutsche Fahne – und war der einzige, der abschmierte. „Als unser Mann bei der Landung stürzte, dachte ich schon an ein böses Omen“, philosophierte Franz Beckenbauer. Ahnen hätte es der Kaiser allerdings schon vorher können, da die deutsche Mannschaft im Kust-Hotel untergebracht wurde – an dem Ort also, den die Holländer schon beehrt hatten, bevor sie sich den Dänen geschlagen geben mussten.
9.
Der Triumph der Dänen im Finale 1992 war eine Sensation, die auch in Kopenhagen niemand erwartet hatte. Als die UEFA Dänemark nachnominierte, bat Trainer Moeller-Nielsen beim Vorsitzenden der dänischen Liga darum, den letzten Spieltag der Saison 1991/92 vorzuverlegen. Er kassierte einen Korb, Begründung: Die dänische Mannschaft würde ja ohnehin nur für die Vorrunde nach Schweden reisen.
10.
Im tschechischen Lager grassierte vor dem Endspiel 1996 akute Transferverwirrung um Pavel Nedved: Der Spielmacher, in England als Komet an den europäischen Fußballhimmel geschossen, war eigentlich noch mit einem Zwei-Jahres-Vertrag an Sparta Prag gebunden, hatte aber trotzdem beim PSV Eindhoven unterschrieben – nur um am Tag vor Wembley den verwirrten Journalisten in die Mikrofone zu diktieren, er wolle das Angebot von Lazio Rom annehmen.
11.
Stefan Kuntz ließ sich vor dem Finale 1996 nicht lumpen und rief höhere Mächte auf. Als Legionär bei Besiktas Istanbul angestellt, hatte er auf einem türkischen Basar mit findigem Verhandlungsgeschick 40 Talismane erstanden, die er an die deutsche Delegation verteilte. Das Auge Allahs, eine kleine Kugel aus Kristallglas, hält dem muslimischen Glauben zufolge das Böse fern. Und manchmal schmiert es auch die Handschuhe tschechischer Torhüter. Gut übrigens, dass eben jener Kuntz Bierhoffs Kullerball nur ins Tor eskortierte, aber nicht mehr berührte. Er wäre im Abseits gewesen.
12.
In Gefahr geriet der Pokalgewinn 1996 nochmal auf dem Weg zur Siegerehrung, und abermals sollte Kuntz im Zentrum der Diskussion stehen. Mit dem durchtriebenen Jungspund Mehmet Scholl hatte er den perfiden Plan beschlossen, die Queen zu knutschen. „Aber je näher wir ihr kamen, desto größer wurde die Sorge, dass wir den Pott dann doch nicht mitnehmen dürfen“, so der Stürmer. Sie ließen es bleiben – und küsste stattdessen den Silberbauch.
13.
Und nochmal 1996. Geraume Zeit nach dem Finale verriet Mario Basler mit einem schockierenden Geständnis die wahren Gründe für den Titelgewinn: „An diesen englischen Abenden wurden so einige Gläser Bier, Wodka-Lemon und Gin-Tonic geleert, ein paar Marlboros geraucht und über die schönen Dinge des Lebens geplauscht. Wir Spieler durften sogar bei den Frauen übernachten. Denn wochenlang kein Sex – das ging ja auch nicht.“
14.
Das Finale der Euro 2000 entschied David Trezeguet in der Verlängerung mit seinem Gewaltschuss in den linken Knick. Natürlich nur Zufall, dass beide Schützen der entscheidenden Finaltore, Trezeguet und Bierhoff, 1996 und 2000, jeweils erst während des Spiels eingewechselt wurden, sich nach dem Treffer das Trikot über den Kopf zogen und die Nummer 20 trugen. Oder?
15.
Eigentlich ist der Turniersieg Griechenlands bei der EM in Portugal 2004 für sich schon Anekdote genug. Wichtig war er überdies für das stolze Land. 90 Prozent Einschaltquote erzielte die Partie daheim, alle griechischen Parteiführer, damals unrettbar zerstritten, reisten geeint nach Lissabon. Es ging nicht nur um Fußball, sondern auch um das Selbstwertgefühl einer ganzen Nation. Wirtschaftlich war Griechenland zu dem Zeitpunkt Schlusslicht der EU, die nur 40 Tage später beginnenden Olympischen Spiele drohten ob der unfertigen Arenen und Hallen zum Fiasko zu werden, der Tickerverlauf lief zäh. Aber dann köpfte Charisteas die Hellenen ins Glück, die athenischen Spielstätten wurden in Rekordzeit beendet und Olympia zum Erfolg. Ende gut, alles gut.
16.
Als Spanien im Finale 2008 seine fußballerische Durststrecke beendete, war es ein Sieg gegen Deutschland – und für Antonio Puerta. Am 28. August 2007 war der Spieler des FC Sevilla verstorben, plötzlicher Herzstillstand, auf dem Spielfeld während einer Partie der Primera Division. Sergio Ramos gedachte der Tragödie auch im Trubel der Pokalfeierlichkeiten mit einem weißen T‑Shirt, das Puertas Gesicht zierte. „Siempre con nosotros“ stand unter dem Bild, für immer bei uns. Ein großer, ein bewegender Moment.