Tottenhams Dele Alli galt lange als eines der größten Talente im englischen Fußball. Doch mit 25 Jahren steht der Mittelfeldspieler plötzlich am Scheideweg seiner Karriere. Jetzt darf er die Spurs verlassen – und könnte sich ein Beispiel an Jesse Lingard nehmen.
Es ist etwas mehr als zweieinhalb Jahre her, dass Dele Alli in der Johan Cruijff Arena zum heimlichen Protagonisten des größten Spiels in Tottenhams jüngerer Vergangenheit wurde. Während Stürmer Lucas Moura mit einem Hattrick gegen Ajax Amsterdam den Einzug der Spurs ins Endspiel der Champions League sicherte, war es Alli, der zwei Treffer des Brasilianers aufgelegt und somit maßgeblich zum Erfolg beigetragen hatte. 31 Monate später ist aus dem Helden Alli in London eine Reizfigur geworden. Im Winter darf er laut The Athletic den Verein verlassen. Denn der 25-Jährige bringt schon lange nicht mehr die Leistungen auf den Platz, mit denen er insbesondere zu Beginn seiner Karriere noch regelmäßig die Fans der MK Dons oder an der White Heart Lane verzückte.
„Er ist ein mahnendes Beispiel für viele Spieler da draußen. Wenn du dich nicht mehr auf den Fußball konzentrierst, dann verlierst du den Hunger“, merkte Manchester-United-Legende Roy Keane schon nach einer Niederlage der Spurs bei Liverpool im Oktober 2019 an. Und: „Wenn du den Hunger verlierst, dann ist es schwer, ihn wieder zurückzubekommen.“ Der ehemalige Premier-League-Trainer Graeme Souness ging im selben Gespräch sogar noch weiter. „Er ist ein Schatten seiner selbst“, betonte der Schotte. „Was auch immer der Junge da gerade macht, es funktioniert nicht.“ Souness Kritik besitzt selbst heute noch durchaus ihre Berechtigung – auch wenn Allis Karrierebeginn zunächst ganz anderes vermuten ließ.
Nach einer starken Spielzeit in der League One bei seinem Jugendclub MK Dons verpflichtete Tottenham Hotspur den damals 19-Jährigen für rund 6,5 Millionen Euro. Und auch in London wusste der junge Engländer direkt zu überzeugen. Herausragend war insbesondere seine zweite Spielzeit. Er schoss wettbewerbsübergreifend 22 Tore, gab 13 Vorlagen und war damit einer der Hauptgründe, weshalb die Spurs in ihrer letzten Spielzeit an der legendäre White Heart Lane kein einziges Heimspiel verloren. Seine überragenden Leistungen beförderten Alli zudem schnell auf den Radar der englischen Nationalelf. Bei der Europameisterschaft 2016 stand er in allen vier Partien der Three Lions auf dem Feld und spielte auch bei der WM in Russland zwei Jahre später eine wichtige Rolle, als er im Viertelfinale gegen Schweden das vorentscheidende 2:0 erzielte.
Doch in der Folge fiel Alli nicht mehr nur durch entscheidende Tore, sondern vielmehr durch fehlende Konstanz auf. Während er im Champions-League-Halbfinale noch zwei Treffer vorbereitetet hatte, tauchte der Nationalspieler im Finale gegen Liverpool, Tottenhams wohl wichtigstem Match in diesem Jahrtausend, komplett ab. Dazu markiert das Spiel um Platz 3 in der Nations League zwischen England und der Schweiz im folgenden Sommer bis heute seinen letzten Einsatz im Nationalteam. Englands erfolgreiche Europameisterschaft 2021 durfte der hochverlangte Techniker nur vor dem eigenen Fernseher verfolgen.
„Er trainiert nicht gut“
Zu diesem Zeitpunkt hatte Alli gerade seine schwächste Saison bei den Spurs hinter sich. José Mourinho, Tottenhams damaliger Trainer, hatte häufig auf den Box-to-Box-Spieler verzichtet, sodass die Spurs-Fans nur noch selten das zu sehen bekamen, was Alli eigentlich auszeichnete: seine technische Versiertheit und seine Torgefahr. Die Kombination dieser beiden Komponenten war zu Allis Glanzzeiten besonders häufig bei seiner Verarbeitung hoher Flankenbälle zu sehen gewesen, die in den Rücken der Abwehr gespielt wurden. Diese nahm er entweder mit der Brust an und befördert den abtropfenden Ball dann wuchtig aufs Tor oder er versuchte selbst den direkten Abschluss per Volley. Ein besonders phänomenaler Treffer gelang Alli dabei im Januar 2016 gegen Crystal Palace. Einen hohen Ball lupfte er kurz vor der Strafraumgrenze über seinen Gegenspieler, drehte sich dabei elegant um ihn herum und schoss den Ball volley ins Netz. „Dieser junge Mann ist eine Sensation“, jubelte damals der Kommentator des Spiels.
Doch trotz seines außergewöhnlichen Talents hatte Alli ein Problem und es war José Mourinho, der das erkannte. Während der Teamsitzung vor dem Debütspiel des Trainers gegen West Ham im November 2019 sprach dieser vor versammelter Mannschaft die Faulheit des damals 23-Jährigen im Training an. Auch Clubboss Daniel Levy wies er frühzeitig auf die Problematik hin. „Ich habe Dele bereits direkt drauf angesprochen: Er trainiert nicht gut“, erklärte Mourinho in einem seiner ersten Gespräche mit dem Präsidenten. „Wir müssen die richtige Motivation für ihn finden.“ Doch das gelang dem Portugiesen nicht – und auch nicht seinen Nachfolgern.