Wie Messi, Suarez und Ter Stegen durch die Geistesgegenwart eines 14-Jährigen aus der Champions League flogen: Unser Autor verneigt sich vor einem Balljungen.
Andererseits hatte es Jürgen Klopp irgendwie geschafft, in der Stadt einen trotzigen Optimismus zu verbreiten. Das merkte man am nächsten Tag schon lange vor dem Anpfiff. Der von einer Gehirnerschütterung noch nicht ganz genesene Salah schlenderte in einem schwarzen T‑Shirt mit der Aufschrift „Never give up“ über den Rasen, dann feuerte James Milner seine Mitspieler beim Warmmachen an, als ginge es hier schon ums Ganze. Und als die beiden Mannschaften zum Anstoß das Grün betraten, war die elektrisierende Atmosphäre fast mit Händen zu greifen. Der „Mythos Anfield“ wird oft stark übertrieben dargestellt, denn das Stadion ist inzwischen nur noch an ganz besonderen Tagen so laut und intensiv wie früher. Aber dies war einer jener Tage.
Nach 78 Minuten hatten diese entfesselten Fans den Ball schon dreimal ins Netz gebrüllt. Das Hauptziel – eine Verlängerung – war erreicht, doch nun wollte Liverpool mehr. Trent Alexander-Arnold flankte von der rechten Seite, Sergi Roberto blockte den Ball ab. Das Spielgerät flog ins Toraus, prallte gegen eine Werbebande und rollte zurück ins Feld. Barcelonas Verteidiger drehten sich um, wandten Alexander-Arnold den Rücken zu und nahmen gemächlichen Schrittes ihre Positionen für den Eckstoß ein. Und warum auch nicht? Schließlich sahen sie den Ball noch durch ihren Strafraum kullern. Ihnen entging, dass es nicht mehr der Spielball war.
Perfekte Augen-Hand-Koordination
Schon in dem Moment, als das Leder gegen die Werbebande geflogen war, hatte der 14-jährige Balljunge Oakley Cannonier seine Position eingenommen. Er hielt einen neuen Ball in der rechten Hand und schaute nicht aufs Feld, sondern fixierte Alexander-Arnold mit seinem Blick. Sobald er einen kurzen Augenkontakt hergestellt hatte, warf er dem Profi den Ball zu. Dann, während Alexander-Arnold den neuen Ball in den Viertelkreis an der Eckfahne legte, richtete sich Cannonier auf und forderte Divock Origi auf, ihm schnell das Leder zuzuspielen, das im Strafraum lag. Origi führte erst die Anweisung des Balljungen aus. Und dann pfefferte er den neuen Ball, den Alexander-Arnold ihm maßgerecht servierte, aus sieben Metern zum 4:0 in Tor.
Als der Ball in den Maschen lag, lief Origi rüber zur Eckfahne und Alexander-Arnold. Sekunden später hatte sich eine Jubeltraube gebildet, in der selbst die Ersatzspieler steckten. Direkt vor den feiernden Spielern drehte der Kop komplett durch – viele Fans brachen sogar, wie Aufnahmen des Klubfernsehens später zeigten, spontan in Tränen aus. Andere schlugen einfach nur die Hände über dem Kopf zusammen.
So. Und was tat nun inmitten dieses Trubels der Held des Tages? Klar, Cannonier sprang auf, riss die Arme in die Höhe und … Nein, natürlich nicht.
Der Junge, der gerade sein erstes Jahr in der B‑Jugend des FC Liverpool spielte, saß unbeweglich auf seinem Platz vor der Bande, den Blick nicht etwa auf die Jubeltraube gerichtet, sondern aufs Spielfeld. In seinen Händen hielt er einen Ball. Oakley Cannonier war bereit für den nächsten wichtigen Wurf.
(P.S.: Zwei Monate später bekam er seine Belohnung. Cannonier durfte in einem Testspiel der U18 gegen die A‑Jugend von Burton Albion auflaufen. Prompt traf er zum 1:0. Für ihn war es wahrscheinlich der Moment des Jahres.)