Als wären die aktuellen weltpolitischen Themen nicht brisant genug, wird die WM in Katar auch noch von einem der schlimmsten Konflikte der 90er-Jahre eingeholt: vom blutigen Bürgerkrieg auf dem Balkan.
Eines lässt sich bereits nach zwölf WM-Tagen konstatieren: Gianni Infantinos Wunschtraum vom heiteren Turnier, das die dunklen Wolken am weltpolitischen Horizont spielend leicht überstrahlt, ist genau das: ein Wunschtraum. Neben der desolaten Menschenrechtslage im Gastgeberland Katar, der schockierenden Brutalität des islamistischen Regimes im Iran, dem grausamen russischen Krieg gegen die Ukraine und anderen tagesaktuellen Themen gibt es noch ein weiteres, fast vergessen geglaubtes Kapitel der Weltgeschichte, das diese WM immer wieder einholt. Die Rede ist vom Jugoslawien-Krieg – und von alten Rechnungen, die bis heute offen sind.
Schon rund um das erste Gruppenspiel der Serben gegen Rekord-Weltmeister Brasilien waren im Netz Fotos aufgetaucht, die ein nationalistisches Banner in Serbiens Kabine zeigten. Offenbar ein bewusst geleaktes Statement vonseiten der Balkan-Delegation. Darauf abgebildet waren die Umrisse „Groß-Serbiens“, die auch den seit 2008 eigenständigen, mehrheitlich albanisch-bevölkerten Kosovo einschließen. Der noch junge Staat ist so eine Art europäisches Israel – oder Palästina. Fakt ist: Gleich zwei Bevölkerungsgruppen erheben Anspruch auf das Gebiet. Und ein dauerhaftes friedliches Miteinander ist mal mindestens schwierig.
Die lautstarken Proteste gegen das Banner, vor allem aus dem Kosovo, waren kaum verhallt, da schockte der nächste krasse Vorfall mit Jugoslawien-Bezug – diesmal von kroatischer Seite: Beim Spiel zwischen Kroatien und Kanada hatten Schlachtenbummler in rot-weißen Schachbrett-Trikots ein Transparent in die Höhe gehalten, auf dem stand: „Knin 95 – keiner rennt wie Borjan.“ Eine Anspielung auf die kroatische Rückeroberung der serbisch-besetzten Stadt Knin im August 1995. Anschließend wurden fast alle in Knin und Umgebung lebenden Serben von dort vertrieben. Unter denen, die nur mit dem Nötigsten flohen, war auch die Familie des heutigen Nationalkeepers von Kanada: Milan Borjan (35).
Während der Vertreibung aus dem damaligen Kriegsgebiet war der kleine Milan gerade mal acht Jahre alt. Erst viele Jahre später lernte Borjan zu verstehen, was ihm und seinen Liebsten damals widerfahren war. Sie hatten ihre Heimat verloren. Und dann, 27 Jahre später im fernen Katar, muss er auf dieses Banner blicken: „Knin 95 – keiner rennt wie Borjan.“ Was für ein grausamer, menschenverachtender Hohn.
„Das zeigt, wie primitiv Menschen sein können“, erklärte Milan Borjan nach dem Spiel. „Ich möchte das ansonsten nicht weiter kommentieren. Diese Leute sollten sich um ihre Familien kümmern. Offenbar sind sie so frustriert, dass sie hierher gekommen sind, um ihrem Frust Luft zu machen.“
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