EM-Generalprobe geglückt. Welche Bedeutung der deutsche 2:0‑Sieg gegen Ungarn aber hat, weiß keiner so recht. Ein Überblick über die Test-Erkenntnisse.
Fangen wir doch einfach mit der guten Nachricht an: Acht Tage vor dem ersten EM-Gruppenspiel der deutschen Mannschaft am kommenden Sonntag gegen die Ukraine in Lille musste Bundestrainer Joachim Löw keine weitere Hiobsbotschaft verkraften. Beim schmucklosen 2:0‑Sieg gegen Ungarn verletzte sich kein weiterer Nationalspieler – immerhin etwas.
Darüber hinaus darf der Test eigentlich nicht als sportlicher Gradmesser für den EM-Start dienen. Zu schwach präsentierten sich die Ungarn, die deutsche Elf spielte pflichtbewusst ihren Stiefel runter ohne großartig zu überzeugen. Dennoch: Einige Erkenntnisse brachte sogar dieser schnöde (vom DFB als Familientag deklarierte) Härtetest vor der EM.
Die Taktik
Die deutsche Mannschaft lief, anders als im letzten Test gegen die Slowakei, statt mit Dreierkette und zwei Stürmern wieder im gewohnten 4 – 2‑3 – 1‑System auf. Das wird wohl auch am kommenden Sonntag zum EM-Start so sein – auch wenn Bundestrainer Löw nach dem Spiel im „ZDF“ betonte, dass die Dreierkette ein Thema bliebe.
Das bewährte System verlieh dem deutschen Spiel mehr Sicherheit und Ordnung. In Perfektion verteidigte die Mannschaft dennoch nicht: Die eigentlich ungefährlichen Ungarn konnten sich drei Chancen herausspielen, vor allem weil die Zuordnung im deutschen Defensivspiel nicht immer stimmte. Dass dennoch nach 90 Minuten die Null stand, darf als Randaspekt einer gelungenen Generalprobe verbucht werden.
Der Spielaufbau lief vor allem über Jerome Boateng, der das Spiel immer wieder mit seinen präzisen, kaiserähnlichen Diagonalbällen ankurbelte. Im Mittelfeld zog der frisch gebackene Champions-League-Sieger Toni Kroos die Fäden. In Abwesenheit von Bastian Schweinsteiger ist Kroos der unumstrittene Boss in der deutschen Zentrale.
Wenn‘s schnell geht, wird‘s gefährlich
Ansonsten agierte die deutsche Mannschaft wie erwartet. Die Außenverteidiger rückten gegen einen extrem tief stehenden Gegner bei eigenem Ballbesitz weit auf und versuchten immer wieder ihre offensiven Vorderleute zu unterstützen. Das funktionierte vor allem im ersten Durchgang auf der linken Seite (Hector-Draxler) sehr gut.
Insgesamt fehlte dem deutschen Spiel über weite Strecken jedoch die Geschwindigkeit. Wie wichtig diese gegen defensive Gegner wie Ungarn ist, zeigt der 1:0‑Treffer. Schnelle Passfolge, Draxler auf den durchstartenden (leicht im Abseits stehenden) Hector, Pass in die Mitte zu Götze, Eigentor des unter Druck geratenen Verteidigers. Ähnlich wichtig: Die Erkenntnis, zur Not gegen eine Fünferkette auch mal mit langen Bällen zum Erfolg zu kommen – wie beim 2:0‑Siegtreffer. Flanke Boateng, der eingewechselte Gomez köpft in bester Mittelstürmer-Manier aufs Tor, Müller staubt ab, Tor.
Die Schwachpunkte
Es gab sie allerdings auch, die weniger glanzvollen Momente. Im zentralen Mittelfeld fehlte zeitweise die Aktivität beim Spiel nach vorne. Das galt am Samstagabend vor allem für Sami Khedira und Mesut Özil. Erstgenannter tauchte bis zu seiner Auswechslung zur Pause immer wieder ab, wirkte insgesamt noch sehr behäbig und langsam.
Özil tauchte gefühlt überhaupt erst nach dem Seitenwechsel auf, als er Khedira positionsgetreu im defensiven Mittelfeld ersetzte und plötzlich häufiger am Ball und in der Rückwärtsbewegung gefordert wurde. Das offensive Spiel durch die Mitte verbesserte sich dennoch nicht wirklich, in der Zentrale lahmte es auch weiterhin. Das sah auch Ausnahme-Aktivposten Toni Kroos so. Er sagte nach dem Spiel: „Eigentlich bin ich zufrieden. Wir können aber auch aus dem Zentrum besser und schneller in den Strafraum reinkommen, um noch mehr Chancen zu haben.“
Unterschiedliche Außenverteidiger-Schwächen
Eine weitere Schwachstelle: Die defensiven Außenverteidiger. Sowohl Jonas Hector als auch Benedikt Höwedes machten keine allzu glückliche Figur – wenn auch in unterschiedlichen Ausführungen. Höwedes überzeugte zwar defensiv, wirkte aber in seinen Offensivbemühungen unglücklich – wobei das auch an seinem bis zum 2:0‑Treffer fast unsichtbaren Vordermann Thomas Müller lag.
Hector wiederum überzeugte offensiv, hatte aber in der Rückwärtsbewegung Probleme. Gleich dreimal wurde der Kölner diagonal lang überspielt. In den anschließenden Duellen auf seiner linken Außenbahn gegen den wendigen Flügelstürmer Balazs Dzsudzsak wirkte Hector dann zu behäbig. Zwar ging es gegen die Ungarn dieses Mal gut, im Turnierverlauf warten aber andere Kaliber. Hier besteht noch Verbesserungsbedarf.
Die EM-Startaufstellung
Bundestrainer Joachim Löw gab mit seiner Anfangsformation einen Fingerzeig auf seine Turnier-Startaufstellung am nächsten Sonntag gegen die Ukraine. Vier Positionen (zweiter Innen- sowie Rechtsverteidiger, Linksaußen, Stürmer) galten vor dem Ungarn-Test als vakant, nach dem Spiel haben sie sich halbiert. Zwei Stellen hat Jogi Löw noch im EM-Angebot!
Löw schenkte wenig überraschend Antonio Rüdiger, Benedikt Höwedes, Julian Draxler und Mario Götze das Vertrauen. Alle Entscheidungen sind durchaus nachvollziehbar – vor allem nach den Eindrücken aus dem Trainingslager in Ascona. In der Innenverteidigung hatte sich Rüdiger bereits als Vertreter des weiterhin angeschlagenen Mats Hummels etabliert. Nach dem erneuten Startelfeinsatz ist der Roma-Verteidiger wohl endgültig gesetzt.
Vorne wird’s ein Mario machen
Als Rechtsverteidiger hatte der Bundestrainer in Ascona zwar auch Joshua Kimmich getestet. Es war aber klar, dass Löw weiterhin seine WM-bewährte „Sicherheitsvariante“ mit Höwedes in der Hinterhand halten würde. Der etatmäßige Innenverteidiger verspricht die größtmögliche defensive Stabilität, bringt außerdem eine gesunde Portion Dynamik mit. Dennoch offenbarte Höwedes gegen Ungarn wieder einmal seine größten Mankos: Spielerische Klasse und Flankenqualität. Auf dieser Position wird Löw wohl erst in der nächsten Woche entscheiden, wer wirklich ins Turnier startet.
Im linken Mittelfeld ist die Sache eindeutiger: Der Wolfsburger Draxler feierte bereits seinen zweiten Startelfeinsatz infolge und hat die Nase vor der Konkurrenz (Schürrle, Podolski). Im Sturm wiederum bekam Götze zwar den Vorzug vor Mario Gomez und nutzte seine Chance auch durch das Tor zum 1:0 – dennoch läuft es auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen bis zum Schluss hinaus. Die Entscheidung fällt wohl mit der taktischen Ausrichtung für das Spiel gegen die Ukraine. Fest steht hier lediglich: Ein Mario wird’s machen!
Die Schweini-Frage
Nun ist klar, was alle schon geahnt haben: Bastian Schweinsteiger wird zum EM-Start nicht von Anfang an auf dem Platz stehen. Der Kapitän (dieses Mal vertreten von Manuel Neuer) feierte zwar sein Comeback nach monatelanger Verletzungspause, stellte nach dem 22-minütigen Einsatz im „ZDF“ aber klar: „Ich glaube eher nicht, dass es am Sonntag für 90 Minuten reicht.“
Ohnehin tappt der Beobachter auch nach dem Ungarn-Test weiterhin im Dunkeln, wie weit und fit Schweinsteiger wirklich ist. Unter der Woche hatte DFB-Co-Trainer Thomas Schneider noch freudig erklärt, Schweinsteiger sprühe förmlich vor Spielfreude. Davon war während seines Kurzeinsatzes aber eher wenig zu spüren, auch weil sich beide Teams zu diesem Zeitpunkt nach diversen Wechseln schon im Standfußball-Modus befanden. Schweinsteiger schlug ein paar Pässe, meckerte über ein Foul. Das war’s dann auch.
Dabei wäre ein schnelles Comeback des Kapitäns für die junge deutsche Mannschaft extrem wichtig. Er ist einer der wenigen echten Leader und wäre auch als sportliche Alternative gefragter denn je – vor allem weil Sami Khedira zur Halbzeit nach einem Foul des Ungarn Lang ausgewechselt werden musste. Zwar nur eine Vorsichtsmaßnahme, dennoch nicht wirklich beruhigend.
Standard-Übungen
Und letztlich waren da noch die Standardsituationen – bis vor der WM 2014 ja eine Dauer-Schwäche der deutschen Nationalmannschaft. Nun scheint sich aber tatsächlich der Trend von Brasilien fortzusetzen: Die kreativen Standard-Ideen von Spielern und Trainern kommen nach intensive Trainingsarbeit in Ascona auch zur Geltung. Vor allem in Halbzeit eins überzeugte das Team mit ruhenden Bällen.
Zunächst chippte Kroos einen Eckball auf den ersten Pfosten, wo Müller einlief und verlängerte. Dann fand eine Özil-Ecke punktgenau den Kopf des einfliegenden Rüdigers. Und schließlich zog wiederum Kroos eine Freistoß-Flanke aus dem Halbfeld auf den langen Pfosten, wo Müller dank eines grandiosen Laufweges wartete und den Ball zurück in die Mitte gab. Drei Situationen, dreimal Gefahr vor dem gegnerischen Tor. Auch wenn letztlich keine der ruhenden Bälle zu einem Tor führte, macht das doch Hoffnung für die wirklich wichtigen Spiele – ab nächster Woche, in Frankreich.