Kaum ein Waliser hat mit dem Halbfinale gerechnet. Jetzt hofft ein ganzes Land auf den großen Wurf. Auch weil sie 58 Jahre auf dieses Turnier warten mussten.
Ashley Drake kann seit letztem Freitagabend nicht mehr gut schlafen. Ständig wacht der 51-jährige Chef eines mittelständigen walisischen Verlages in Cardiff auf. Die Europameisterschaft in Frankreich nimmt ihn mit. Seine Nation, Wales, steht seit Freitagabend im Halbfinale. Drake kann das kaum glauben. Die Aussicht auf das große Spiel in Lyon gegen Portugal raubt ihm den Schlaf.
„Dass ich das mal erleben darf!“
Wenn er wieder einmal nachts aufsteht, setzt er sich vor den Fernseher und schaut sich die EM-Spiele seines Nationalteams noch einmal an. Die Gruppenspiele gegen die Slowakei, England und Russland. Das Achtelfinale gegen Nordirland, das Viertelfinale gegen Belgien. In voller Länge, inklusive der Analysen der TV-Experten. „Ich sitze da und denke mir: Das darf nicht wahr sein! Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal erleben darf.“
Drake hat alle EM-Spiele der walisischen Mannschaft live im Stadion gesehen. Besonders das Belgien-Spiel hat es ihm angetan. „Vor der Partie hat jeder vom möglichen Triumph der goldenen belgischen Generation geredet. Es hat doch niemand ernsthaft mit unserer Mannschaft gerechnet“, sagt er. Zweifelsohne hätten die Belgier die besseren Spieler. „Wir haben aber das bessere Team und einen besseren Zusammenhalt. Unser Halbfinal-Einzug war kein Dusel!“
Eine große Familie
Tatsächlich ist dieser ganz besondere walisische Zusammenhalt in Frankreich zu spüren. Die Innenstadt Lyons erstrahlte schon am Dienstag, also einen Tag vor dem Spiel gegen Portugal, im walisischen Rot. Es ist ein bisschen wie bei den Isländern: Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, eine große Familie hätte sich auf den Weg gemacht. Jeder kennt irgendwen, der auch in der Stadt ist oder zumindest mal für ein Spiel in Frankreich war.
Zum Halbfinale werden nun knapp 12.000 Waliser anreisen. Sie alle eint die Sehnsucht nach dem ganz großen Wurf, dem EM-Finale. Endlich wollen auch sie einmal triumphieren. Schließlich steht Wales so gut wie nie in den britischen Sport-Schlagzeilen – erst recht nicht im Fußball. „Gute Dinge passieren uns eher selten. Wir Waliser sind es gewohnt, anderen beim Gewinnen zuzuschauen“, erklärt Ashley Drake.
Ohnehin ist in Wales seit jeher Rugby Nationalsport Nummer eins. Die Waliser sehen darin den ehrlicheren Sport, Fußball galt lange als Betätigung für Weicheier. Dass sich dieses Bild verändert hat, liegt zum einen an der Popularität von Superstar Gareth Bale, dem walisischen Export bei Real Madrid. Allerdings haben auch die starken Auftritte der Nationalmannschaft in der EM-Qualifikation ihren Anteil.
„When Pelé broke our Hearts“
Immerhin ist die Europameisterschaft in Frankreich die erste walisische Turnierteilnahme seit 58 Jahren. Damals, bei der WM 1958 in Schweden, überstand Wales überraschend die Gruppenphase und musste sich erst im Viertelfinale Brasilien mit 0:1 geschlagen geben. Torschütze damals: ein 17-jähriger Wunderstürmer namens Pelé. Eines der beliebtesten walisisches Fußball-Bücher trägt den Titel „When Pelé broke our Hearts“ – als Pelé unsere Herzen brach.
Trotz der Niederlage erzählen sie in Wales noch heute von 1958. Ein paar Anhänger haben die Marke „Spirit of 58“ gegründet, die Fan-Utensilien in den Farben rot-gelb-grün herstellt, den damaligen Nationalfarben. „Wir mussten lange auf eine Qualifikation für ein großes Turnier warten“, sagt Tim Williams, der Gründer von „Spirit of 58“ und ergänzt: „Obwohl das aber 58 Jahre her ist, sind wir unserem Nationalteam stets treu geblieben.“
Zu einer dieser treuen Fans zählt Mark Ainsbury. Er fährt seit 35 Jahren der Nationalmannschaft hinterher und erklärt in wenigen Sätzen, was die EM in Frankreich für die Waliser bedeutet: „Wir wollten so ein Turnier einmal erleben, einmal die Nationalhymne singen dürfen. Das haben wir nun bereits fünfmal getan. Jetzt können wir glücklich sterben!“
Wer mit Ainsbury spricht, hört fast in jedem Satz die Wörter „Traum“ oder „Sensation“. Fans wie er sind stolz auf das Team und auf die Anhänger. „Freunde von mir, die schon lange mit auswärts fahren, haben sogar ihr Auto für die EM-Tickets verkauft.“ In Lyon würden vielleicht nur 12.000 Waliser im Stadion sein, so Ainsbury. „Gefühlt werden wir aber drei Millionen sein. Eine ganze Nation, die sich nichts mehr wünscht als das Finale.“
Sie alle, Team und Fans, schreiben zusammen am größten Kapitel der walisischen Fußballgeschichte. Ein Kapitel, das vielleicht sogar Pelé vergessen macht. Verleger Ashley Drake ist extra mit dem Auto von Cardiff nach Lyon gereist, um notfalls bis zum Wochenende bleiben zu können. „Das Finale wäre für mich ein Traum“, sagt er ehrfürchtig. Ein Traum, der ihm endlich wieder ruhigere Nächte verschafft.