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Ashley Drake kann seit letztem Frei­tag­abend nicht mehr gut schlafen. Ständig wacht der 51-jäh­rige Chef eines mit­tel­stän­digen wali­si­schen Ver­lages in Car­diff auf. Die Euro­pa­meis­ter­schaft in Frank­reich nimmt ihn mit. Seine Nation, Wales, steht seit Frei­tag­abend im Halb­fi­nale. Drake kann das kaum glauben. Die Aus­sicht auf das große Spiel in Lyon gegen Por­tugal raubt ihm den Schlaf.

Dass ich das mal erleben darf!“

Wenn er wieder einmal nachts auf­steht, setzt er sich vor den Fern­seher und schaut sich die EM-Spiele seines Natio­nal­teams noch einmal an. Die Grup­pen­spiele gegen die Slo­wakei, Eng­land und Russ­land. Das Ach­tel­fi­nale gegen Nord­ir­land, das Vier­tel­fi­nale gegen Bel­gien. In voller Länge, inklu­sive der Ana­lysen der TV-Experten. Ich sitze da und denke mir: Das darf nicht wahr sein! Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal erleben darf.“

Drake hat alle EM-Spiele der wali­si­schen Mann­schaft live im Sta­dion gesehen. Beson­ders das Bel­gien-Spiel hat es ihm angetan. Vor der Partie hat jeder vom mög­li­chen Tri­umph der gol­denen bel­gi­schen Gene­ra­tion geredet. Es hat doch nie­mand ernst­haft mit unserer Mann­schaft gerechnet“, sagt er. Zwei­fels­ohne hätten die Bel­gier die bes­seren Spieler. Wir haben aber das bes­sere Team und einen bes­seren Zusam­men­halt. Unser Halb­final-Einzug war kein Dusel!“

Eine große Familie

Tat­säch­lich ist dieser ganz beson­dere wali­si­sche Zusam­men­halt in Frank­reich zu spüren. Die Innen­stadt Lyons erstrahlte schon am Dienstag, also einen Tag vor dem Spiel gegen Por­tugal, im wali­si­schen Rot. Es ist ein biss­chen wie bei den Islän­dern: Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, eine große Familie hätte sich auf den Weg gemacht. Jeder kennt irgendwen, der auch in der Stadt ist oder zumin­dest mal für ein Spiel in Frank­reich war.

Zum Halb­fi­nale werden nun knapp 12.000 Waliser anreisen. Sie alle eint die Sehn­sucht nach dem ganz großen Wurf, dem EM-Finale. End­lich wollen auch sie einmal tri­um­phieren. Schließ­lich steht Wales so gut wie nie in den bri­ti­schen Sport-Schlag­zeilen – erst recht nicht im Fuß­ball. Gute Dinge pas­sieren uns eher selten. Wir Waliser sind es gewohnt, anderen beim Gewinnen zuzu­schauen“, erklärt Ashley Drake.

Ohnehin ist in Wales seit jeher Rugby Natio­nal­sport Nummer eins. Die Waliser sehen darin den ehr­li­cheren Sport, Fuß­ball galt lange als Betä­ti­gung für Weich­eier. Dass sich dieses Bild ver­än­dert hat, liegt zum einen an der Popu­la­rität von Super­star Gareth Bale, dem wali­si­schen Export bei Real Madrid. Aller­dings haben auch die starken Auf­tritte der Natio­nal­mann­schaft in der EM-Qua­li­fi­ka­tion ihren Anteil.

When Pelé broke our Hearts“

Immerhin ist die Euro­pa­meis­ter­schaft in Frank­reich die erste wali­si­sche Tur­nier­teil­nahme seit 58 Jahren. Damals, bei der WM 1958 in Schweden, über­stand Wales über­ra­schend die Grup­pen­phase und musste sich erst im Vier­tel­fi­nale Bra­si­lien mit 0:1 geschlagen geben. Tor­schütze damals: ein 17-jäh­riger Wun­der­stürmer namens Pelé. Eines der belieb­testen wali­si­sches Fuß­ball-Bücher trägt den Titel When Pelé broke our Hearts“ – als Pelé unsere Herzen brach.

Trotz der Nie­der­lage erzählen sie in Wales noch heute von 1958. Ein paar Anhänger haben die Marke Spirit of 58“ gegründet, die Fan-Uten­si­lien in den Farben rot-gelb-grün her­stellt, den dama­ligen Natio­nal­farben. Wir mussten lange auf eine Qua­li­fi­ka­tion für ein großes Tur­nier warten“, sagt Tim Wil­liams, der Gründer von Spirit of 58“ und ergänzt: Obwohl das aber 58 Jahre her ist, sind wir unserem Natio­nal­team stets treu geblieben.“

Zu einer dieser treuen Fans zählt Mark Ains­bury. Er fährt seit 35 Jahren der Natio­nal­mann­schaft hin­terher und erklärt in wenigen Sätzen, was die EM in Frank­reich für die Waliser bedeutet: Wir wollten so ein Tur­nier einmal erleben, einmal die Natio­nal­hymne singen dürfen. Das haben wir nun bereits fünfmal getan. Jetzt können wir glück­lich sterben!“

Wer mit Ains­bury spricht, hört fast in jedem Satz die Wörter Traum“ oder Sen­sa­tion“. Fans wie er sind stolz auf das Team und auf die Anhänger. Freunde von mir, die schon lange mit aus­wärts fahren, haben sogar ihr Auto für die EM-Tickets ver­kauft.“ In Lyon würden viel­leicht nur 12.000 Waliser im Sta­dion sein, so Ains­bury. Gefühlt werden wir aber drei Mil­lionen sein. Eine ganze Nation, die sich nichts mehr wünscht als das Finale.“

Sie alle, Team und Fans, schreiben zusammen am größten Kapitel der wali­si­schen Fuß­ball­ge­schichte. Ein Kapitel, das viel­leicht sogar Pelé ver­gessen macht. Ver­leger Ashley Drake ist extra mit dem Auto von Car­diff nach Lyon gereist, um not­falls bis zum Wochen­ende bleiben zu können. Das Finale wäre für mich ein Traum“, sagt er ehr­fürchtig. Ein Traum, der ihm end­lich wieder ruhi­gere Nächte ver­schafft.