Der größte Erfolg im Leben des Profis Horst Hrubesch: Als der Hamburger SV vor 40 Jahren in Athen den Europapokal der Landesmeister gewann. Und sich das Kopfballungeheuer in löchriger Trainingshose über die Designeranzüge der Juve-Spieler kaputt lachte.
Sonne schien ins Zimmer. Ein lauer Wind wehte durchs offene Fenster und ließ die Gardinen tanzen. Im Hof hörte er aus weiter Entfernung die Stimmen spielender Kinder. Dutzende leerer Bierflaschen und Sektgläser standen auf dem Tisch. Der schale Duft von Zigarettenrauch in der Luft ließ ihn beim Aufwachen kurz erschauern. Jahrelang war er selbst Raucher gewesen, wie war das nur möglich? Seine getönte Brille lag neben ihm auf dem Fußboden. Wie lang hatte er geschlafen? Mühsam fahndete er im Kopf nach Erinnerungen an die vergangene Nacht. Das Display des Radioweckers zeigte 16.13 Uhr an. Es konnte unmöglich so spät sein. Zur Kontrolle warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und Schweiß schoss ihm auf die Stirn. Binnen Sekunden reifte die wage Ahnung zur Gewissheit: Er hatte verpennt.
Einige Kilometer entfernt am Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel unternahm die Dame von der Ansage einen weiteren Versuch: „Herr Magath, bitte begeben Sie sich unverzüglich zu ihrem Flugsteig.“ Eine leicht verkaterte Reisegruppe wartete am Gate. Horst Hrubesch, Ditmar Jakobs und die anderen Spieler des frischgebackenen Europacupsiegers, des alten und neuen Deutschen Meisters lauschten amüsiert den Aufforderungen, die ihrem Spielmacher galten. Ausgerechnet der introvertierte Klassenprimus Magath war also nicht zur Abreise nach Siegen erschienen, wo der HSV heute, am 5. Juni 1983, eine Deutschland-Tour mit sieben Freundschaftsspielen starten sollte, um seine leere Klubkasse aufzufüllen. Als der Aufruf erneut ertönte, bröckelte auch das Pokerface von Trainer Ernst Happel und der qualmende „Wödmasta“ brach in ein herzhaftes Lachen aus.
13 Tage vorher sah die Welt noch anders aus. Vorwärts, rückwärts, vorwärts und zurück. Die VHS-Kassette rotierte im Recorder. Der Wiener Grantler sah sich im Besprechungsraum des Trainingszentrums Ochsenzoll mit seinem Team ein Spiel auf Video an: Juventus Turin gegen Widzew Łódź, Halbfinalrückspiel im Landesmeistercup. Endergebnis 2:2. Schweigend verfolgten die Spieler das Geschehen auf dem Bildschirm. Die Italiener liefen mit einer Traumelf auf. Sechs amtierende Weltmeister, dazu das wohl beste Mittelfeld dieser Zeit mit Frankreichs Genius Michel Platini und und dem Polen Zbigniew Boniek. Happel referierte kurz und knapp in schlichten Aussagesätzen. Seine Jungs wussten selbst, welcher Gegner am Mittwochabend im Athener Olympiastadion auf sie wartete. Als die Kassette zuende war, schoben die Profis ihre Stühle zurück und machten sich auf den Heimweg. Der Coach gab Wolfgang Rolff ein Zeichen, er möge sitzen bleiben. Happel brummte: „Traust du dir den Platini zu?“ Rolff, ehrgeizig bis in die Haarspitzen, musste nicht überlegen. Happel drückte also die Rückspultaste am Videogerät und lieferte dem 23-Jährigen noch eine komprimierte 40-Minuten-Fassung von Platinis Repertoire.
Dienstag, der 24. Mai 1983
„Jungs, das haben wir hinter uns“, motzte Horst Hrubesch, „lasst bloß die Anzüge zuhause.“ Im Präsidium wurde diskutiert, wie sich der Verein beim Fußballfest in Athen präsentieren solle. Aber der bodenständige Kapitän (Lieblingsessen: Eintopf, Lieblingsmusik: Abba) bevorzugte die rustikale Variante. Der 32-Jährige war einer von acht Spielern im Kader, die bereits im Landesmeisterfinale 1980 gegen Nottingham Forest dabei waren. In nagelneuen Maßanzügen war der HSV damals ins San Bernabéu nach Madrid gereist. Genutzt hatte der feine Zwirn den Hanseaten nichts – sie waren den Briten mit 0:1 unterlegen. Diesmal also kein Brimborium, keine großen Empfänge – in Athen sollte der Fußball im Mittelpunkt stehen. Die Gruppe, die sich am späten Vormittag am Abfluggate in Fuhlsbüttel sammelte, wirkte für Außenstehende eher wie ein Kegelklub, als ein Mitglied der Belle Etage des internationalen Fußballs.
Im Charterflieger der Hapag-Lloyd zum Flughafen Athen-Ellinikon saß die gewohnte Clique. Neben der Mannschaft war eine Abordnung des HSV-Vorstandes um Präsident Dr. Wolfgang Klein mit an Bord und eine Handvoll Edelfans, die das Team fast überall hin begleiteten. In der griechischen Hauptstadt waren Zimmer im Interconti in der Syngrou Avenue reserviert. In der Lobby trafen die Spieler auf Bayern-Manager Uli Hoeneß und Paul Breitner, der hoffte, aus den beiden Finalisten einige Stars für sein bevorstehendes Abschiedsspiel zu rekrutieren.
Die Bälle beim abendlichen Abschlusstraining im Olympiastadion flogen Uli Stein mal von halblinks, dann wieder von halbrechts um die Ohren. Ein paar einstudierte Spielzüge, am Ende Auslaufen bei Acht gegen Acht. In der Zeit vom 16. Januar 1982 bis zum 29. Januar 1983 war die Mannschaft in 36 Ligaspielen hintereinander ungeschlagen geblieben. Diese Siegermentalität strahlte der Kader auch heute aus. „Selbstbewusst bis an die Grenzen der Arroganz“, sei man gewesen, sagt Holger Hieronymus. Happel hielt die Spieler an der langen Leine. Die große Freiheit im Privaten, aber wer auf dem Platz nicht mitkam, hatte ein Problem. An diesem Tag waren alle Spieler um 23 Uhr auf den Zimmern. Uli Stein war der letzte, der sich um kurz nach elf von der Massagebank bei Hermann Rieger rollte.