Klar, Marcelo Bielsa ist der Kopf und das Herz des neuen Leeds United. Aber ohne Victor Orta wäre er gar nicht da.
Menschen aus dem Fußball benutzen gerne Begriffe wie Leidenschaft und Hingabe. Sie sprechen von großer Begeisterung, die sie spüren, wenn ein Spiel angepfiffen wird oder ein Tor fällt. Sie sagen, dass sie Fußball leben.
Man möchte den Leuten nicht absprechen, dass sie wirklich Spaß an der Beschäftigung mit Fußball haben. Bloß oft klingt es dahergesagt, beinahe wie eine Floskel.
Bei Victor Orta ist das anders.
Wenn man ihn auf der Tribüne beobachtet, sieht es aus, als stünde er selbst auf dem Platz. Er köpft die Kopfbälle imaginär mit, er schießt die Freistöße in die Winkel. Wenn er genug Platz hätte, würde er vermutlich durch die Sitzreihen grätschen, um ein Gegentor in letzter Minute zu verhindern. Einmal erhielt er wegen unflätiger Sprache ein Stadionverbot, ein anderes Mal hörte man ihn im Hintergrund einer Pressekonferenz singen. „Is that Victor?“ Yes, he sings when he wants!
Victor Orta ist Sportdirektor bei Leeds United. Aber vor allem ist er Fußballfan und Fußballnerd und Fußballverrückter, und man könnte meinen, so einer musste über kurz oder lang bei diesem Klub landen, wo die Fans im Stadion nach Toren noch mal etwas lauter und ergriffener sind als andernorts. Wo man nach dem Aufstieg in die Premier League den Jubel bis nach Sheffield hörte. Wo Supermärkte kein Ketchup führen, weil Rot die Farbe von Manchester United ist. Wo man abends sein Tischgebet zum Fußballgott und Don Revie spricht.
Und man könnte ergänzen, dass so einer auch irgendwann an der Seite des größten Trainernerds der Welt, Marcelo Bielsa, landen musste. Er, Orta, ist der Mann mit dem Plan neben dem Mann mit den ganz vielen Plänen.
Ohne Orta, so viel steht fest, würden einige gute und sehr gute Spieler nicht bei Leeds United spielen – vielleicht auch nicht unser aktueller Coverboy Robin Koch. Orta wusste alles über den deutschen Innenverteidiger, Zweikampfquote bei Eintracht Trier 2015, Hausnummer seiner Freiburger Wohnung 2018, Haarlänge seines Vaters 1996. Anfang des Jahres präsentierte Orta einem Lokaljournalisten stolz sein Koch-Dossier. Später erzählte Koch selbst, dass Orta und Bielsa ihm Power-Point-Präsentationen und Videos geschickt hatten. In einigen Sequenzen waren seine Spieleröffnungen beim SC Freiburg mit denen von Leeds United verschnitten.
Für unsere neue Titelgeschichte über Leeds United und Robin Koch haben wir auch mit Victor Orta gesprochen. Er sagt: „Koch kannte ich schon lange. Du kannst einen Spieler nicht erst analysieren, wenn du weißt, dass er auf dem Markt ist. Du musst rechtzeitig anfangen. Du musst Informationen zur Hand haben, dann kannst schnell handeln.“
So ist Orta. Akribisch, wissbegierig, einer, der tief eintaucht in Dinge, die er gut findet.
„Ich mag Fußballklubs mit einer Geschichte. Fußballklubs, die Menschen berühren.“
Jeder Fußballfan kann Geschichten davon erzählen, wie er Panini-Hefte gesammelt oder das Kicker-Sonderheft auswendig gelernt hat. Bei Orta bekommen diese Erzählungen etwas Märchenhaftes. Es gibt vermutlich keinen Menschen auf der Welt, der mehr über Fußball gelesen hat als er. In seinem Büro stapeln sich die Fußballzeitschriften, bekannte Publikationen, aber auch Indie-Zines in Kleinstauflagen. FourFourTwo, Blizzard, Panenka. Vom legendären argentinischen Fußballmagazin El Grafico besitzt er jede einzelne Ausgabe – von der Gründung im Jahr 1920 bis zur Einstellung 2018. Einige Hefte lagern aus Platzgründen mittlerweile im Haus seiner Mutter.
Orta, ein Kind der Achtziger, interessierte sich schon früh für internationalen Fußball. Es war wie eine Schatzsuche, die ihn immer weiter hinein führte in eine weit verzweigte Welt der Ligen, Wettbwerbe, Kader und Systeme. Er brachte sich Italienisch bei, weil er die Serie A verstehen wollte. Als er 14 war, entdeckte er in der Zeitschrift World Soccer eine Anzeige für den Almanach Rothmans Football Yearbook. Das Buch sollte 5000 Peseten kosten, was umgerechnet etwa 30 Euro sind. „Ich fragte meinen Vater, hier, das ist ein Buch, da steht alles drin, alle Spieler, alle Statistiken, alle Resultate. Aber mein Vater sagte, es sei zu teuer. Ich sagte okay, und dann schrubbte ich den ganzen Sommer Swimmingpools von reichen Leuten, um mir mit dem Geld das Buch zu kaufen.“
Später wurde Orta Journalist. Er arbeitete für Eurosport und Radio Marca. Eines Tages traf er auf Sevillas Ramón Rodríguez Verdejo, besser bekannt als Monchi. Der Erfolgsmanager nahm ihn mit auf die andere Seite. Orta wurde Sportdirektor, Manager, Scout und manchmal alles in einem. Er war in Sevilla, Valladolid, St. Petersburg und Middlesbrough. Er sagt: „Ich mag Fußballklubs mit einer Geschichte. Fußballklubs, die Menschen berühren.“ Ein Angebot aus Katar lehnte er ab.
In Leeds allerdings lief es anfangs nicht so gut. Vor seiner ersten Saison verpflichtete Orta 30 Spieler, nur fünf schafften es ins erste Team. Zwei Trainer verschliss er, am Ende landete die Mannschaft auf einem enttäuschenden 13. Platz der Championship.
Er sagt, er habe Fehler gemacht. Dem Portal The Athletic erklärte er das mal so: „Normalerweise sind von fünf Neuzugängen drei gut und zwei schlecht. Das ist die Quote. Überall. Sogar bei meinem Mentor Monchi. Denn Spieler sind Menschen.“
Und auch Sportdirektoren sind Menschen. In einer Szene in „Take us home“ – einer Doku-Serie, die Leeds United von der Championship zurück in die Premier League begleitet – sieht man Orta in sich zusammengesunken, den Tränen nah. Leeds war nicht abgestiegen und hatte auch kein wichtiges Finale verloren. In letzter Minute war aber der Transfer von Daniel James gescheitert, dabei hatte er schon den Medizincheck an der Elland Road absolviert.
Im Laufe der Jahre wurde Ortas Quote besser, auch weil das Scouting-System ausgefeilter wurde. Dem Podcast „Training Ground Guru“ erklärte er, dass er es mit „70 Prozent menschlichem Auge und 30 Prozent Daten“ probiere. „Ich arbeite mit zwei Algorithmen, die perfekt auf uns zugeschnitten sind. Anhand von etwa 80 Statisiken treffen wir eine Auswahl.“
Vor der laufenden Premier-League-Saison holte Leeds punktuell wichtige
Verstärkungen. Neben Koch kamen zum Beispiel Rodrigo vom FC Valencia oder Raphinha von Stade Rennes. Spieler, die lukrative Angebote von Klubs hatten, die zuletzt erfolgreicher waren, entschieden sich für den Premier-League-Aufsteiger. Und das wiederum hat natürlich sehr viel mit Ortas bester Verpflichtung zu tun.
„Er hatte bereits zehn Leeds-Spiele gesehen und kannte jeden Spieler“
Es war irgendwann im Sommer 2018, kurz nach der Entlassung von Trainer Paul Heckingbottom. Victor Orta und Klubeigner Andrea Radrizzani fuhren gemeinsam im Auto durch die Stadt. Radrizzani fragte, welchen Trainer sie holen könnten, und Orta antwortete: „Ich glaube, Marcelo Bielsa wäre der Wahnsinn, aber es ist unmöglich.“ Radrizzani antwortete: „Ruf ihn jetzt an!“
Orta war schon lange Fan des Argentiniers, ein Bielsista, bevor diese Bezeichnung populär wurde. 2004 war Orta bei den Olympischen Spielen in Athen als Reporter und verfolgte vor allem Argentiniens Nationalmannschaft, die unter Bielsa Gold gewann. 3000 Kilometer nördlich stieg Leeds aus der Premier League ab. Nun also, im Sommer 2018, sollten sie zusammenkommen.
Aber Bielsa nahm nicht ab. Also hinterließ Orta eine Nachricht.
Am nächsten Tag klingelte das Telefon bei Orta. Bielsa war dran. Er hatte bereits zehn Leeds-Spiele gesehen und kannte jeden Spieler. Orta flog nach Buenos Aires, sie unterhielten sich bis in den späten Abend, Bielsa stellte allerhand Forderungen auf, vor allem wollte er Verbesserungen auf dem Trainingsplatz. „Wenn ihr das alles macht, bin ich dabei!“, sagte er.
Am 14. Juni 2018 setzte er seine Unterschrift unter den Vertrag.