Nach dem Sieg in Irland kann Luxemburg gegen Portugal heute die Tabellenspitze der WM-Quali-Gruppe A übernehmen. Aber Moment mal: Sieg? Tabellenspitze? Luxemburg??? Unser Autor muss sich erst noch an den Erfolg seines Heimatlandes gewöhnen.
Schlimmer noch als die ständige Angst vor der nächsten Blamage war die Emotionslosigkeit, mit der auch ich das Trauerspiel mittlerweile verfolgte. Das heimische, heruntergekommene Josy-Barthel-Stadion spiegelte die Tristesse und die Hoffnungslosigkeit wieder. Stimmung kam nur noch sehr selten auf. Einzig und alleine der „M‑Block“, eine Ansammlung von sympathischen und trinkfesten „Ultras“ (eine Mischung aus Familienvätern, jungen Wilden und ehemaligen Kickern, die sich selbst nicht zu Ernst nehmen und gerne Fußball zusammen anschauen), war bei jedem Heimspiel voll. Kinder, die im Trikot des eigenen Teams rumliefen, sah man so gut wie nie. Die meisten Leute hätten eh nicht gewusst, wo es die Trikots zu kaufen gab. Wer will es ihnen verübeln? Schließlich dribbelte ja auch kaum ein Kind mit dem Wunsch durchs Leben, irgendwann mal so kicken zu können wie Jeff Strasser.
So schauten wir alle immer weniger auf Luxemburg und immer mehr über die Grenzen hinweg. Und in der Hoffnung, Emotionen aufzubauen, begann vor jedem großen Turnier die Suche nach einem „Ersatzteam“, das sich mit gutem Gewissen anfeuern ließ. Eine Art „Reise nach Jerusalem“ des Fan-Seins. Mal fällte ich die Entscheidungen trivial, etwa weil eine Nation besonders schöne Trikots hatte, mal erhoffte ich mir, durch eine besonders clevere Wahl endlich einen Erfolg, auch wenn er nicht der eigene war, feiern zu können. Die zahlreichen portugiesischen oder italienischen Freunde und Bekannte wurden eifersüchtig beäugt. Denn, auch das stellte sich zuverlässig bei jedem Turnier heraus: Gefühle lassen sich nicht künstlich herauf beschwören. Die authentische Freude anderer Fans rief einem das immer wieder in Erinnerung. So vergingen mehr als 20 Jahre. Ein ganzes Fußballland auf der Suche nach Emotionen.
Bis 2017. Von der alten Mannschaft war nichts mehr übrig, selbst Jeff Strasser hatte mittlerweile aufgehört und war jetzt als Trainer aktiv. Der Kader der „roten Löwen“ war kaum wieder zu erkennen. Ein Team, das zehn Jahren zuvor nur zwei bis drei Profis vorzuweisen hatte, war mittlerweile gespickt mit im Ausland kickenden Talenten. Spieler wie Leandro Barreiro (Mainz 05), Laurent Jans (damals SC Paderborn, jetzt Verteidiger bei Standart Lüttich) oder auch Christopher „Kiki“ Martins (Champions-League-Teilnehmer mit YB Bern) hatten dabei geholfen, eine neue, erfolgreichere luxemburgische Identität zu erschaffen. Ein Fußballzwerg, der plötzlich wuchs. Längst wurde nicht nur gegen die vermeintlich kleinen Gegner wie Lichtenstein oder Malta auf einen Sieg gehofft. Denn da war wieder dieses Gefühl wie in den Neunzigern, diese Ahnung, auch große Gegner ärgern zu können.
Doch all diese Gefühle und auch die Mannschaft selbst waren damals noch furchtbar fragil. Das zeigte sich spätestens in der Qualifikation zur Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Am 3. September 2017 war die Mannschaft von Trainer Luc Holtz, der das Team 2010 übernommen hatte, bei den Nachbarn aus Frankreich zu Gast. Dem späteren Weltmeister konnte ein sensationelles 0:0 abgerungen werden. Einen Monat später ging die von Lob nur so überschüttete Truppe mit 0:8 (!) und mit wehenden Fahnen in Schweden unter. Wie schnell Euphorie in den jahrelang üblichen Zynismus umschlagen konnte, ließ sich daraufhin wunderbar in der luxemburgischen Medienwelt beobachten („Schweden führt Luxemburg vor“). Zwar erzielte die Mannschaft immer öfter gute Resultate, doch so ganz vergaßen die Luxemburger nie, dass die Enttäuschung, die auf einem Anflug von Euphorie folgt, die schlimmste ist. Aber: Die positive Entwicklung setzte sich fort. Alleine im Jahr 2020 konnten vier der zehn Länderspiele gewonnen werden. Vier von zehn! Auch ich staunte. Auch bei mir war plötzlich die Hoffnung zurück.
Vergangener Samstag. Es läuft die 85. Minute. Rein objektiv betrachtet sieht Irland wie der klare Favorit aus, doch das Spiel hat sich bis jetzt als ausgeglichene Angelegenheit erwiesen. Gut, die Iren haben mehr Ballbesitz, aber Luxemburg versteckt sich nicht und taucht immer wieder vor dem irischen Tor auf. Ein Punkt in Irland wäre auf jeden Fall ein Erfolg. Was dann folgt, verwandelt mich innerhalb von Sekunden in mein vierjähriges Ich.
Ein langer Ball aus der starken luxemburgischen Verteidigung landet über Umwege in den Füßen von Gerson Rodrigues. Eine kurze Annahme, eine schnelle Drehung und ein beherzter Antritt reichen, um sich der irischen Verteidiger zu entledigen. Er wird doch nicht? Doch, wird er! Ein beherzter Schuss aus 30 Metern, unhaltbar für den irischen Torwart. 1:0! Für Luxemburg!! Es bleibt bei diesem einen Tor. Ein Tor, das nicht nur den Sieg bedeutet, sondern den Luxemburgern im heutigen Spiel gegen Portugal die Möglichkeit gibt, die Tabellenführung zu übernehmen. Ein Tor, das mir gezeigt hat, wie schnell ich mich wieder wie ein kindlich-naiver Fußballfan fühlen kann. Die Emotionen sind wieder da. Endlich. Oder um es im zynischen Sound eines Luxemburgers zu sagen: Hat ja auch nur knapp 26 Jahre gedauert.
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