Nach dem Sieg in Irland kann Luxemburg gegen Portugal heute die Tabellenspitze der WM-Quali-Gruppe A übernehmen. Aber Moment mal: Sieg? Tabellenspitze? Luxemburg??? Unser Autor muss sich erst noch an den Erfolg seines Heimatlandes gewöhnen.
Es lief die 88. Minute. Paul Koch, der luxemburgische Nationaltorhüter, hielt den Ball in seinen Händen. Wieder einmal hatte ein Angriff der Tschechen hier geendet. Koch ließ sich alle Zeit der Welt. Ein 0:0 gegen die übermächtigen Tschechen? Es wäre ein unglaublicher Erfolg. Nur noch zwei Minuten plus Nachspielzeit, und genau das wäre geschafft. Was dann passierte, sollte mein Leben für immer verändern.
Der weite Abschlag landete über Umwege bei Mittelstürmer Roby Langers, der gedankenschnell Sechser Guy Hellers auf die Reise schickte, welcher sich nicht beirren ließ und den Ball eiskalt an Petr Kouba vorbei ins tschechische Tor schob. 1:0! Für Luxemburg!! Es sollte das letzte Tor dieser für mich legendären Partie bleiben. Luxemburg hatte soeben den kommenden Europameisterschafts-Finalist geschlagen. Was folgte, war pure Ekstase. Beziehungsweise alles an Ekstase, was die 1.670 Zuschauer im nicht einmal halb ausverkauften Josy-Barthel-Stadion in Luxemburg zu bieten hatten. Mein Vater drückte mich, heulend vor Glück, so fest an sich, dass mir kurz die Luft wegblieb. An diesem 7. Juni 1995, ich war grade viereinhalb Jahre alt, packte mich das Fußballvirus. Für immer. Dass dieser Torjubel für lange Zeit der letzte seiner Art bleiben sollte, ahnte ich damals noch nicht. Denn dass Luxemburg keine dominierende Fußballmacht war und wohl auch nie eine sein würde, das wussten zwar alle um mich herum. Ich aber nicht.
Der Erfolg gegen Tschechien war der größte, den Luxemburg seit Jahren geschafft hatte. Und ich war dabei gewesen, direkt bei meinem ersten Stadionbesuch überhaupt. Ein wunderbarer Zufall. Einerseits. Andererseits schürte das Spiel falsche Erwartungen – nämlich die, dass diese Mannschaft stets erfolgreich sein würde. Was die „roten Löwen“ aus Luxemburg in den folgenden 20 Jahren zusammenspielten, taugte dann aber eher nicht zur Erfolgsstory. Im Gegenteil: Von den folgenden 100 Länderspielen konnte Luxemburg lediglich drei jämmerliche Partien für sich entscheiden. Als Kind merkte ich dementsprechend schnell, dass das Spannendste an den Qualifikationen für die großen Turniere die Gruppenauslosung war. Wenn alles gut lief, gab es alle zwei Jahre die Möglichkeit, zumindest ein echtes Starensemble im heimischen Stadion zu bewundern.
An Siege dachte ich schon bald nicht mehr. Ich dachte an Spieler wie Thierry Henry, Dennis Bergkamp oder Michael Ballack, und freute mich, wenn diese nach Luxemburg kamen und, noch besser, sogar ein paar nette Worte über ihren Gegner, also meine fußballerisch völlig unbekannten Landsleute, verloren. Klar, die Sätze klangen immer gleich, „auch Luxemburg dürfen wir nicht unterschätzen“, „auch Luxemburg kann Fußball spielen“, Allgemeinplätze und höfliche Phrasen eben. Aber genau diese Phrasen zählten für mich zu den Highlights. Auch die Reporter, denen sie in schöner Regelmäßigkeit in die Mikrofone gesprochen wurden, freuten sich. Obwohl sie es nie zugegeben hätten. So oder so wussten wir alle: Wirklich was dran war an den Warnungen und Mahnungen der Stars nichts.
Bezeichnend dafür, dass niemand mehr mit Siegen oder Überraschungen rechnete, war, dass knappe Niederlagen oder verpasste Chancen abgekultet oder gar gefeiert wurden. So als ob die Mannschaft ein Spiel gewonnen hätte. Zum Beispiel am 14. Oktober 1999. Luxemburg spielte in der EM-Qualifikation gegen die haushohen Favoriten aus England. Die Stars von der Insel waren drückend überlegen, aber beim Stand von 0:0 wurde Luxemburg ein Elfmeter zugesprochen. Und obwohl Mittelfeldspieler Dan Theis den Ball so weit übers Tor drosch, dass der Platzwart ihn – so wird es sich in meiner Heimat nach drei Bieren zumindest bis heute gerne erzählt – immer noch sucht, hält sich im Land eine Legende weiterhin hartnäckig: Nämlich die, dass das Spiel ganz anders ausgegangen wäre, wenn Theis diesen Versuch verwandelt hätte. Was dabei gerne vergessen wird, ist die Tatsache, dass die Engländer das Spiel souverän mit 3:0 für sich entschieden und Luxemburg damit mehr als gut bedient war. Das Torschussverhältnis lautete zum Beispiel 3:16 zu Gunsten der Engländer. Wenn die Spiele überhaupt noch verfolgt wurden, dann entweder bis zum ersten Gegentor oder mit einer gewaltigen Prise Zynismus, die die dauerhafte Erfolglosigkeit sogar beim größten Optimisten früher oder später hervorrief.
Dan Theis im Duell mit Steve McManaman 1999
Die Freude und Aufregung, die um die Länderspiele Mitte der Neunziger geherrscht hatte, verflog schnell wieder. An den Mythos von David und Goliath glaubte eh niemand mehr. David hatte sich schlicht und ergreifend zu oft blamiert. Vor allem aber gab es Anfang der 2000-Jahre kaum Hoffnung, dass sich irgendetwas daran ändern würde. Zwar reagierte der luxemburgische Fußballverband (FLF) 2000 mit dem Bau des ersten nationalen Nachwuchsleistungszentrum (NLZ), doch würde es noch Jahre dauern, bis dieses auch nachhaltig Früchte tragen könnte und sollte. Die großen Turniere kamen und gingen, ohne dass die luxemburgische A‑Nationalmannschaft etwas Erwähnenswertes erreichte.
So dauerte es nach der Gründung des NLZ fünf weitere Jahre, bis sich im luxemburgischen Fußballherz erstmals wieder etwas regte. 2005 konnte ein gewisser Miralem Pjanic, mittlerweile Mittelfeldstratege beim FC Barcelona, auf sich Aufmerksam machen. Alleine die Art, wie er Freistöße verwandelte, versetzte das Land in Ekstase. Doch die Entscheidung, dass der in Schifflingen aufgewachsene Pjanic für sein Geburtsland Bosnien und Herzegowina auflaufen würde, ließ den Traum einer erfolgreichen luxemburgischen Mannschaft schneller wieder platzen, als er entstanden war. So blieb Jeff Strasser, der auch schon als 19-Jähriger bei dem legendären Sieg gegen Tschechien zum Einsatz gekommen war, das Aushängeschild des luxemburgischen Fußballs. Jeff fucking Strasser.
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