Michel Platini hat sich entschieden. Der UEFA-Boss will im Februar 2016 die Nachfolge von Sepp Blatter als FIFA-Präsident antreten. Ist er der Richtige, um den Weltverband zu reformieren?
Michel Platini hat einen Hang zum Pathos. Schon zu aktiven Zeiten klumpten die Worte bei ihm nicht wie Pflastersteine aus dem Mund, so wie sie es bei etwa Horst Hrubesch oder Karl-Heinz Rummenigge taten. Der französische Ästhet, der wegen seiner toupierten Krause von Journalisten gern mit Mozart verglichen wurde, drückte sich wie ein Staatsmann aus. Von ihm stammt der Satz: „Fußball ist wie Musik. Man muss nicht Klavier spielen können, um den Pianisten zu verstehen.“
Ein Sinnspruch, der sich gleichermaßen für Poesiealben und Bankette eignet. Gesprochen von einem, der sich schon in jungen Jahren bewusst war, dass sein Schaffen historische Dimensionen hat. Michel Platini ist eine Ikone des Fußballs. Sein Platz auf dem Olymp dieses Spiels ist gleich neben Franz Beckenbauer, Johan Cruyff, Pelé oder Diego Maradona.
Dennoch war Platini seine Bedeutung als Profi nie genug. Er wollte den Fußball auch auf politisch-gesellschaftlicher Ebene prägen. Er wollte nie seinen Ruhm ableben, er wollte gestalten. Dafür trat er nach seiner Laufbahn den Gang durch die Instanzen an. Er fing an, akribisch Akten zu wälzen. Er schlug sich mit Verbandsgremien herum. Er, der Weltkicker, machte sich klein vor den grauen Schlipsträgern und Apparatschiks. Und sicher nahm er auch ab und an schweigend zur Kenntnis, wenn ihm Missstände in der Führung des Kontinental- und des Weltverbands auffielen.
Er hat sich als Zögling von Sepp Blatter instrumentalisieren lassen. Hat 1998 mitgeholfen, dass sein Förderer zum FIFA-Präsidenten gewählt wurde. Seit 2002 sitzt er im Exekutivkomitee des Weltverbandes. Es ist schwer vorstellbar, dass er keine Kenntnis von den gelinde gesagt eigenwilligen Machenschaften einiger Funktionäre bei WM-Vergaben hatte. Auch er hat für Katar als Austragungsort gestimmt. Und bald darauf wurde bekannt, dass sein Sohn Laurent die Funktion als Europa-Chef der „Qatar Sport Investment“ innehat. Kurzum: Es wäre nichts leichter, die Kandidatur von Michel Platini zum nächsten FIFA-Präsidenten als ein weiteres Kapitel in der jahrzehntelang währenden Gschaftlhuberei dieses undurchschaubaren Weltfußball-Unternehmens zu beschreiben mit seinen korrupten Auswüchsen, der endlosen Vorteilsnahme, himmelschreiender Unbescheidenheit und dem bedingungslosem Machtwahn.
Auch Platinis Brief an die 209 Mitgliedverbände der FIFA erinnerte an Blatters pathetische Beteuerungen, stets nur das Beste für das Spiel zu wollen. Der Franzose schrieb: „Es gibt Zeiten im Leben, in denen musst du dein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. (…) Mit meiner Kandidatur habe ich eine sehr persönliche Entscheidung getroffen, in der ich die Zukunft des Fußballs gegen meine eigene Zukunft abgewogen habe.“
Doch ziehen wir alle frankophilen Romantizismen ab und nehmen ihn einfach mal beim Wort, dann birgt seine Kandidatur vielleicht doch die leise Hoffnung auf den lang erhofften Neuanfang. Wann, wenn nicht jetzt? Die Ermittlungen im Korruptionsskandal werden dafür sorgen, dass zumindest einige dunkle Gestalten ihre Macht bei der FIFA einbüßen. Vor wenigen Monaten schien es noch ausgemachte Sache zu sein, dass Sepp Blatter wie der Papst erst mit seinem Ableben aus dem Amt scheiden würde.
Nun aber sieht es aus, als würde erstmals ein Mann Präsident werden, der die Belange des Spiels auf höchster Ebene als Aktiver kennengelernt hat. Einer, der als UEFA-Boss vehementen Reformwillen an den Tag legte, als er „Financial Fairplay“ trotz harscher Widerstände von einigen der finanzkräftigen Vereine einführte. Platini hat gezeigt, dass er nicht nur ein williger Vollstrecker eines Systems sein kann, wenn der Fußball in Gefahr ist, nachhaltig Schaden zu nehmen. Zweifellos wird es auch ihm nicht gelingen, den Korruptionssumpf komplett trocken zu legen, der sich seit vielen Jahren in der FIFA ausbreitet. Aber wäre es nicht schon ein Fortschritt, wenn es ihm gelänge, die außer Kontrolle geratenen Strukturen einzudämmen und Reformen anzustoßen?
Trotz aller Fragen, die Platinis Werdegang als Funktionär aufwirft, darf man nicht vergessen: Im Gegensatz zu all seinen Vorgängern auf dem Präsidentenstuhl kann 60-Jährige in dieser Rolle seinen Ruhm als Fußball-Ikone nicht mehren, sondern ausschließlich beschädigen. Platini hat mit Beharrlichkeit auf diese Position hingearbeitet. Wenn er sich jetzt, wo sich ihm endlich die Chance bietet, wichtige Impulse zu setzen, wie all seine Amtsvorgänger ausschließlich darauf besinnt, den Reichtum des Verbandes und seiner Vertreter zu mehren, wird er vielleicht als wohlhabender Mann sterben. Seine Aura als Lichtgestalt des Fußballs, als einer, der auf dem Platz Menschen mit überraschenden, unvorhergesehen Dingen verzaubern konnte, wird er jedoch gänzlich verlieren.
Wir sollten uns also im Angesicht von Platinis Kandidatur fragen: Ist es zu allererst nicht ein Segen für den Fußball, dass die Ära Blatter endlich ein Ende hat? Und gibt es nicht – gerade mit Blick auf die Nachfolgeregelungen bei früheren FIFA-Präsidentschaften – weitaus groteskere Kandidaten, als eine Fußballikone, die das politische Geschäft seit Jahrzehnten kennt und zumindest vorgibt, die eigene Zukunft in den Dienst einer besseren Zukunft des Fußballs stellen zu wollen? Auch wenn es schwer fällt in Zeiten, in denen Heuchelei als politisches Werkzeug längst gesellschaftsfähig geworden ist: Geben wir Michel Platini zumindest eine Chance!