Profis essen in ihrer Freizeit Goldsteaks oder fliegen nach Abu Dhabi. Sven Michel geht lieber in den Wald und sammelt Heilkräuter. Unterwegs mit Unions Neuzugang, dem Miraculix der Bundesliga.
Der Text erschien erstmals in 11FREUNDE #226. Das Heft gibt es bei uns im Shop.
Sven Michel weiß alles. Also fast. Der C‑Falter zum Beispiel heißt C‑Falter, weil das Muster an seiner Flügelinnenseite an den Buchstaben C erinnert. Und die zerriebenen Fasern vom Breitwegerich helfen gegen Ohrenschmerzen. Und Tomaten gehören ausgegeizt, einfach die kleinen Mitteltriebe abreißen, dann kommen die Nährstoffe an den richtigen Stellen an, kein Problem, ganz simpel. Und wer Kopfweh hat, muss sich nicht gleich eine Aspirin einklinken, sondern kann es erst mal mit einem Johanniskrauttee probieren. Der sich ja auch ganz leicht selber herstellen lässt. Ab in den Wald, Kräuter einsammeln, kopfüber aufhängen, zwei Wochen trocknen, dann fallen die Blätter und Blüten fast von alleine ab. In einen Beutel füllen, heißes Wasser drauf, fertig ist der Tee. Und und und. Sven Michel weiß alles. Also fast. Zumindest in Bezug auf die Natur. „Wenn man Johanniskraut gegen das Sonnenlicht hält“, sagt er und hält einen kleinen grünen Zweig in den Himmel, „sieht man schwarze Punkte auf der Rückseite der Blätter. Daran erkennt man es super.“ Zu sehen sind die schwarzen Punkte für ungeübte Augen zwar kaum, und wahrscheinlich würde man sich beim Versuch, auf eigene Faust Johanniskraut zu finden und daraus einen Heiltee zu brühen, fürchterlich vergiften, aber seine Augen sind eben nicht ungeübt. Im Gegenteil.
Es ist ein warmer Tag im Juli, und Sven Michel läuft durch den Wald. Der Wald liegt etwa dreißig Kilometer entfernt von Paderborn, der Stadt also, in der Michel Fußball spielt. Mit dem SC Paderborn ist er vor wenigen Wochen aus der Bundesliga abgestiegen, auch seine fünf Tore konnten das nicht verhindern. Mit welchen Kollegen und Ambitionen es in die neue Saison geht, weiß er noch nicht. Das Transferfenster ist in diesem Jahr bis zum Oktober geöffnet, im Fußballgeschäft eine halbe Ewigkeit, es kann noch viel passieren.
Von Hektik und Ungewissheit ist hier aber nichts zu spüren. Der Himmel ist blau, Vögel zwitschern, Bienen fliegen von Blüte zu Blüte, ansonsten ist es still. So wie Michel das gerne hat. Normalerweise geht er hier mit seinem Hund spazieren, heute soll er fotografiert werden und ein bisschen etwas über den Wald erzählen. Über die Kräuter, die er sammelt, über die Pflanzen, die er mag, über die Pilze, die man lieber nicht mit nach Hause nimmt. Schließlich kann nicht jeder Profi mit so viel Enthusiasmus von Spitzwegerich und Beifuß schwärmen. Schließlich wird nicht jeder Spieler von seinen Kollegen Miraculix genannt. Schließlich freut sich nicht jeder volltätowierte Fußballer so aufrichtig über ein Insekt. „Schaut mal da“, sagt Michel ein bisschen aufgeregt zu Fotografin und Reporter und zeigt auf ein Gebüsch am Wegrand, „ein Tagpfauenauge!“ Ein bräunlicher Schmetterling flattert auf. Wobei, ganz sicher ist Michel sich doch nicht. Was Schmetterlinge betrifft, ist er noch etwas grün hinter den Ohren, so richtig interessiert er sich für das Thema erst, seit seine Frau gerne welche fotografiert. „Aber dafür habe ich ja meine NABU-App. Eine für Vögel, eine für Insekten.“ Er zieht sein Handy raus und tippt. „Ich muss nur kurz danach suchen, dann zeigt mir die App direkt ein Bild und die wichtigsten Merkmale an. Und, ja, ich hatte Recht, war einer.“
„Schaut mal da – ein Tagpfauenauge!“
Warum er so vernarrt ist in die Natur? Also in die etwas, naja, biedere Natur, in Sträucher und Stängel, in Böden und Beeren? Wo andere Profis in ihrer Freizeit lieber mit dem Quad durch Dubai brettern oder auf Jetskis durchs Mittelmeer? Er sei eben im Grünen aufgewachsen, sagt Michel, und ein echtes Dorfkind. Vom Haus seiner Eltern aus habe er nur eine Minute in den Wald gebraucht, zu Fuß. Und entweder sei er von alleine rausgegangen – oder seine Eltern hätten ihn entnervt rausgeschickt. Er lacht. „Eigentlich war ich immerzu nur draußen unterwegs.“
2014 habe er dann gemeinsam mit seiner Frau eine geführte Kräutertour in Österreich gemacht – seitdem lasse ihn das Thema nicht mehr los. Anfangs sei er mit Kräuterbestimmungsbuch durch den Wald gelaufen, später habe er nur noch die Blüten und Blätter eingesammelt und zu Hause nachgeschaut, was genau das Zeug eigentlich ist. Mittlerweile kennt er fast alles, was in deutschen Wäldern wächst. Er liebt die Ruhe, die Freiheit, die Weite. Und hasst die Enge in der Stadt. Nur einmal hat er in einer gelebt, in Mönchengladbach, ein Jahr lang, als er endlich Profi geworden war und einen Vertrag bei der Borussia unterschrieben hatte. „Überall waren Menschen. Um ins Grüne zu kommen, habe ich ewig gebraucht. Und dann waren es irgendwelche Parks, die total überlaufen waren.“ Generell, Gladbach. Schwierige Zeit. Aber das ist ein anderes Thema. Und da muss man weiter vorne anfangen.
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