Laut, groß, blutig: Das Derby zwischen Wydad und Raja Casablanca ist nichts für Kuchenblockfans. 2015 waren wir mit dabei.
Kommt mit uns auf eine wilde Fahrt durch 20 Jahre Fußballkultur: Am 23. März erschien„DAS GROSSE 11FREUNDE BUCH“ mit den besten Geschichten, den eindrucksvollsten Bildern und skurrilsten Anekdoten aus zwei Jahrzehnten 11FREUNDE. In unserem Jubiläumsband erwarten euch eine opulente Werkschau mit unzähligen unveröffentlichten Fotos, humorvollen Essays, Interviews und Backstages-Stories aus der Redaktion. Besonderes Leckerli für unsere Dauerkarteninhaber: Wenn ihr das Buch bei uns im 11FREUNDE SHOP bestellt, gibt’s ein 11FREUNDE Notizbuch obendrauf. Hier könnt ihr das Buch bestellen.
Außerdem präsentieren wir euch an dieser Stelle in den kommenden Wochen weitere spektakuläre Reportagen, Interviews und Bilderserien. Heute: Unterwegs mit den Ultras von Wydad Casablanca.
„Noch ein Foto und du bist tot.“
Am 20. Dezember 2015, wenige Minuten vor Anpfiff des Derbys Wydad gegen Raja Casablanca, steht ein Mann vor der Curva Nord und meint es ernst. Jedenfalls lacht niemand, als er diesen Satz sagt, und so scheint es ratsamer, die Kamera wieder einzustecken.
Sie nennen den Mann Turan, er ist einer der führenden Köpfe der Wydad-Ultras. Später wird man erfahren, dass Turan einfach ein bisschen verrückt sei. Er möge keine Journalisten und nehme Drogen. Man solle ihn ignorieren. Aber in diesem Moment ist das schwer möglich, in diesem Augenblick fragt man sich, wo der verdammte Notausgang ist. Willkommen beim Derby Wydad gegen Raja. Willkommen in Casablanca.
Fußball ist überall auf der Welt ein Sport der großen Gefühle, eine Sache, in der Hass auf besondere Weise zelebriert wird. Es gibt wortmächtige Weisheiten über Rivalitäten, die berühmteste stammt von Bill Shankly: „Einige Leute denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich kann Ihnen versichern, dass es viel ernster ist.“
Am 20. Dezember 2015 in Casablanca stirbt zwar niemand, aber am Ende gerät die Sache, nicht nur wegen Turan, gehörig aus dem Ruder. Es kommt zu Kämpfen mit der Polizei, einer Spielunterbrechung, am Ende prügeln sich Fans sogar auf dem Stadiondach.
Das Gefühl von großer Freiheit
Andererseits ist es vielleicht auch der ganz normale Wahnsinn. Hier, im Stade Mohammed V, wo nichts klein ist, sondern alles heiß, hell und gigantisch. Wo es sich bei jeder Torchance anfühlt, als würde die Welt explodieren und aus ihrer Asche eine neue entstehen. Wo junge Marokkaner, die sonst nicht wissen, wohin mit ihrer Energie, ihrer Liebe und ihrem Zorn, dem Leben mit einer gewaltigen Wucht entgegentreten. An dem vielleicht einzigen Ort in Casablanca, der ihnen das Gefühl von großer Freiheit gibt.
Den Plan, die Ultras von Wydad zu begleiten, gab es schon ein paar Jahre. Aber es war nicht so einfach, mit ihnen in Kontakt zu treten. Und auch diesmal blieben die ersten Anfragen unbeantwortet. Vielleicht waren sie misstrauisch. Auch marokkanische Fans sprechen nicht gern mit Journalisten. Vor allem nicht, wenn sie mit großen Fotoapparaten ankommen.
Die Ultras von Wydad Casablanca nennen sich „Winners 2005“, und sie sind bekannt für ihren prachtvollen Support. Für Gesänge, die so laut sind, dass man sie vermutlich noch an der großen Moschee am Hafen hören kann. Für Choreografien voller popkultureller Referenzen.
Einmal, im Sommer 2013, errichteten sie vor ihrer Kurve einen selbstgebauten Hifi-Stereoturm aus Pappmaché. Ein Monstrum, etwa sechs Meter hoch und 20 Meter breit. Sie hievten eine überdimensionale Papp-CD in einen Schlitz, während ein paar Jungs im Inneren der Höllenmaschine ein schier endloses Banner über ein Display zogen, auf dem, gut sichtbar für alle im Stadion, die Titel verschiedener Chants geschrieben standen.
Immer wenn sie das Banner weiterrollten, sang die komplette Kurve den dort angezeigten Titel wie eine menschgewordene Jukebox mit, „Mi Corazon“, „Casa Nostra“, und so weiter. In den sozialen Netzwerken werden die Winners für solche Aktionen verehrt wie Popstars, auf Youtube erreichen Videos ihrer Shows oft über eine Million Klicks.
Die Ultras des Stadtrivalen Raja Casablanca fahren ebenfalls groß auf. Und natürlich gehen auch die Meinungen darüber auseinander, wer in der ewigen Materialschlacht der Beste und Größte ist im Stade Mohamed V, in diesem prämodernen Betonkoloss, den sie sich schlimmerweise auch noch teilen müssen.
Im Sportlichen ist die Sache hingegen klar, zumindest in dieser Saison: Raja dümpelt im Liga-Mittelfeld herum, während der Rekordmeister Wydad auf Platz zwei steht. Dafür gewann Raja dreimal die afrikanische Champions League, Wydad nur einmal.