Laut, groß, blutig: Das Derby zwischen Wydad und Raja Casablanca ist nichts für Kuchenblockfans. 2015 waren wir mit dabei.
Aber wen interessieren schon Statistiken an Tagen, in denen ein Derbysieg bedeutender erscheint als Fragen von Leben und Tod? Wer die Rivalität der Klubs erklären will, kann das mit Hilfe der üblichen Stereotypen machen: Auf der einen Seite Wydad, die Roten, die Jungs aus der Mittelschicht, die mit den muslimischen Wurzeln und dem englischen Spielstil.
Auf der anderen Seite Raja, die Grünen, beheimatet in den Arbeitervierteln, französisch geprägt und im Spiel eher brasilianisch. Eigentlich muss man aber zurückgehen in das Jahr 1937, als sich eine Männerrunde in Casablanca traf, um über den Namen für einen neuen Verein abzustimmen. Ein Teilnehmer, so sagt die Legende, kam damals zu spät, aber er hatte eine gute Ausrede parat: Er musste noch seinen Lieblingsfilm schauen. Kurzerhand beschlossen die Männer, ihren neuen Klub nach dem Titel dieses Streifens zu benennen: „Wydad“, „Liebe“.
Horrorgeschichten aus dem marokkanischen Fußball
Pere Jego, ein weiterer Teilnehmer dieser Runde, machte das Team danach als Trainer zum erfolgreichsten in ganz Marokko. 1952 überwarf er sich aber mit seinen Mitstreitern und heuerte beim bis dahin unbedeutenden Rivalen an. Und auch wenn Raja, im Arabischen „Hoffnung“, schon 1949 gegründet worden war, sehen viele Fans diesen Wechsel als die eigentliche Geburt ihres Vereins und der Feindschaft mit Wydad an. Das Derby am 21. Dezember 2015 ist das 119. Aufeinandertreffen der beiden Teams.
Die Sache war nur: Eine Antwort der Winners aus Casablanca ließ weiter auf sich warten. Aber war diese ganze Unternehmung nicht eh ein Höllenfahrtkommando? Im Internet findet man allerhand Horrorgeschichten. In einem Blog berichtet jemand von einem Raja-Fan, der einst einem Winners-Mitglied das Kinn abgeschnitten haben soll und aus Angst vor Rache in den Senegal geflohen sei.
In Zeitungsberichten kann man über den Wydad-Anhänger Hamza Bakkali lesen, der 2012 bei Ausschreitungen ums Leben kam. Oder von den Vorkommnissen im März 2014. 150 Wydad-Ultras stürmten damals mit Messern das Trainingsgelände ihrer Mannschaft, weil sie mit der Leistung unzufrieden waren und den Spielern Korruption vorwarfen.
(Wenige Wochen nach Veröffentlichung dieser Reportage starben bei einem Spiel zwischen Raja Casablanca und Chabab Rif Al Hoceima zwei Menschen. Über 50 wurden verletzt. Über die Hintergründe lest ihr hier: Wieso starben im März 2016 zwei Fans in Casablanca? Tod in der Kurve »)
„Sie wollen, dass man sie wahrnimmt!“
Die Polizei reagiert bis heute mit harten Repressalien. Erst seit kurzem beschäftigen sich arabische Forscher mit dem Phänomen der Gewalt im Fußball. So etwa der Soziologe Abderrahim Rharib, der in einer Umfrage unter 600 Fußballfans herausfand, dass die Mehrheit der Schläger nicht aus sozial schwächeren Milieus kommt, sondern aus der Mittelschicht. Viele haben gute Jobs oder studieren.
In Europa weiß man mittlerweile, dass Fußballgewalt kein Phänomen ist, das nur in sozialen Randgruppen auftritt; in Marokko sorgten Rharibs Erkenntnisse für Verwunderung. „Wir müssen mit diesen Jungs reden“, schrieb er in einem Fazit. „Sie wollen, dass man sie wahrnimmt!“
Casablanca am 18. Dezember 2015, ein Café unweit der Altstadt, Old Medina, Temperaturen um die 20 Grad. Noch zwei Tage bis zum Derby. Nach ein paar Wochen kam tatsächlich eine Nachricht von den Winners. „It works“, schrieb ein unbekannter Absender. Läuft.
Old Medina ist Wydad-Land. Die Graffiti an den bröckelnden Fassaden erzählen von den Triumphen des Vereins, die Jungs, die Teppiche oder Tee verkaufen, tragen Shirts von Wydad, Bayern, einer sogar ein altes Trikot des ETSV Eintracht Glückstadt – Hauptsache rot. Casablanca, die Stadt der Liebe und der Romantik, sagen die, die nichts weiter als das berühmte Filmplakat kennen: Ingrid Bergmann in den Armen von Humphrey Bogart. In Wahrheit ist die Vier-Millionen-Stadt ein Moloch. Hart, schnell, funktional. Wer sieht einen hier?
Um die Ecke befinden sich ein paar Bars, Männer sitzen neben anderen Männern, oft alleine, hinter Gardinen trinken sie dort ihren Mahia-Schnaps, die kleine Freiheit. Wer das Land erkunden will, wer auf der Suche ist nach 1001-Nacht-Bildern, der fährt weiter, nach Marrakesch oder zu den Wasserfällen von Ouzoud. „Ihr wollt ins Stadion? In die Curva Nord? Alleine?“, fragen die Alten an der Theke. „Seid ihr lebensmüde?“ Aber es ist zu spät für einen Rückzieher. It works. Wie versprochen.