Heute wird Karl-Heinz Rummenigge 65 Jahre alt. Im Herbst 2018 führten wir ihn zum Doppelinterview mit Michel Platini zusammen. Ein Gespräch über die „Nacht von Sevilla“ und den Beginn einer langjährigen Freundschaft.
Michel Platini, Karl-Heinz Rummenigge, Sie wurden beide 1955 geboren, zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie stellte sich für Sie das deutsch-französische Verhältnis in Ihrer Jugend dar?
Platini: Bei uns hat der Krieg nie eine Rolle gespielt, was daran liegen mag, das meine Familie aus Italien stammt. Obwohl meine Großeltern in Italien geboren wurden, haben meine Eltern nur französisch gesprochen und es wurde bei uns bewusst oder unbewusst keine politische Haltung zu einem anderen Land oder zum Krieg eingenommen.
Rummenigge: Bei uns im ostwestfälischen Lippstadt war es ähnlich. Die Menschen waren froh, dass die Weltkriege vorüber waren. Ich hatte den Eindruck, dass die Deutschen sich schuldig fühlten und sich freuten, als Kanzler Adenauer in Frankreich von Regierungschef de Gaulle empfangen wurde.
Wie war die Atmosphäre, wenn deutsche und französische Mannschaften aufeinandertrafen?
Rummenigge: Kam darauf an, wo wir spielten. Ich erinnere mich an ein Länderspiel in Hannover 1980, wo es keine Rolle spielte, dass wir gegen Frankreich spielten. 1977 spielten wir im Prinzenpark in Paris, wo schon eine besondere Spannung herrschte, die wohl auch mit der Vergangenheit zu tun hatte.
Platini: Ich glaube, diese Atmosphäre hatte weniger mit der Vergangenheit zu tun, als damit, dass wir dem deutschen Fußball mit Respekt begegneten. Was kümmerte uns der Krieg?
Rummenigge: Vielleicht hatten wir auch nur das Gefühl, aufgrund des beschriebenen Schuldempfindens.
Platini: Wir waren die erste Generation nach dem Krieg, die von den Ereignissen nicht traumatisiert war. Mich hat das nie tangiert.
Welche französischen Fußballer waren Stars in Ihrer Jugend?
Rummenigge: Ich kann mich an keinen erinnern. Für Just Fontaine, der bei der WM 1958 Torschützenkönig wurde, war ich zu jung. Und der nächste Franzose, der wieder Weltniveau erreichte, war dann Michel.
Platini: Fußball in den sechziger und siebziger Jahren war ein Desaster in Frankreich. Im Europacup hatten unsere Mannschaft beinahe ein Abo darauf, stets in der ersten Runde auszuscheiden.
Rummenigge: Allerdings muss ich zugeben, dass wir bei den wenigen Spielen gegen französische Teams, in denen es um etwas ging, meist nur mit viel Glück gewonnen haben.
Welche deutschen Spieler taugten für Sie zum Vorbild, Michel Platini?
Platini: Ich liebte die Elf, die 1972 den EM-Titel gewann: Netzer, Overath, Beckenbauer.
Wann haben Sie sich das erste Mal getroffen? Bei einem Jugendturnier?
Platini: Ich habe nie in einer Jugendnationalelf gespielt…
Rummenigge:… ich auch nicht. Vermutlich trafen wir uns bei einem Länderspiel.
Platini: Das System war damals ganz anders. Heute würden Scouts uns im Alter von 12, 13 Jahren entdecken. Damals konnten wir uns glücklich schätzen, wenn wir mit 17, 18 von irgendwo ein Angebot bekamen.
Hatten Sie mal eins aus Deutschland?
Platini: Borussia Mönchengladbach hat mir einen Vertrag angeboten.
Waren Sie auch dort?
Platini: Machen Sie Witze? Ich war mit 17 Jahren doch viel zu schmächtig für die deutsche Liga. Damals bekam ich auch ein Angebot vom FC Valencia, dessen Trainer Alfredo di Stefano war. Habe ich auch abgelehnt.
Wenn Sie sich als Jugendliche nie begegnet sind, standen Sie sich erstmals 1977 beim Freundschaftsländerspiel im Prinzenpark gegenüber. Endstand: 1:0 für Frankreich.
Rummenigge: Ach richtig, das letzte Länderspiel von Franz Beckenbauer.
Platini: Damals gab es einen Streik beim französischen Fernsehen. Olivier Rouyer, dem in diesem Match ein großartiger Treffer gegen Sepp Maier gelang, war ziemlich sauer. Denn das Spiel wurde nicht live übertragen – und niemand bekam etwas mit.
Hatten Sie schon voneinander gehört?
Platini: Bei uns wurden sonntags oft Zusammenfassungen aus der Bundesliga gezeigt, die bekanntlich am Samstag spielte. Deswegen wusste ich ganz gut, was da los ist und was Kalle so macht.
Und welchen Eindruck hatten Sie?
Platini: Ich ahnte, wenn ich gegen den irgendwann im Halbfinale einer WM spielen muss, wird’s schwer für uns. (Lacht.)
Hatte der Sieg 1977, der erste über ein DFB-Team seit der WM 1958, eine besondere Bedeutung?
Platini: Ach was. Auf einen Sieg gegen Italien mussten wir mehr als sechzig Jahre warten! Aber natürlich war dieses Spiel ein Zeichen, dass es nach tristen Jahren für unseren Fußball aufwärts geht. Schließlich war unser Fußball erst durch die Erfolge des AS St.-Étienne in der Mitte der Siebziger wieder zum Leben erweckt worden.
Der AS St. Étienne unterlag dem FC Bayern mit dem jungen Karl-Heinz Rummenigge im Finale um dem Europacup der Landesmeister 1976 nur knapp.
Rummenigge: Auch so ein Match, in dem wir uns nicht hätten beklagen dürfen, wenn wir es verloren hätten. Fünf Minuten vor Ende versenkt „Bulle“ Roth glücklich einen Freistoß, Sepp Maier hat uns wie so oft den Hintern gerettet. Eigentlich hätte St. Etienne mit ein, zwei Toren Unterschied gewinnen müssen.
Platini: Bis zu diesem Zeitpunkt können Sie den deutschen und französischen Fußball nicht vergleichen. Deutschland hatte, seit es 1954 Weltmeister wurde, an jedem großen Turnier teilgenommen und viele wichtige Finals gespielt. So eine Tradition gab es bei uns nicht.
Rummenigge: Ich glaube, alles was den französischen Fußball heute ausmacht, fußt auf der Mannschaft, die Michel bei der WM 1982 anführte. Da hatten sie mit Tigana, Giresse und Michel das beste Mittelfeld der Welt, die Abwehr wurde von Marius Tresor zusammengehalten, einem Bär von Verteidiger. Das Einzige, was ihnen damals fehlte, war ein großer Stürmer…
Platini: …und ein Schiedsrichter, der auf unserer Seite war.