Heute wird Karl-Heinz Rummenigge 65 Jahre alt. Im Herbst 2018 führten wir ihn zum Doppelinterview mit Michel Platini zusammen. Ein Gespräch über die „Nacht von Sevilla“ und den Beginn einer langjährigen Freundschaft.
Aber Sie waren sich bewusst, dass Sie nach einer durchwachsenen WM 1978 mit einem großen Team zur WM 1982 in Spanien reisen?
Platini: Nein. Wir hatten in den Monaten vor der Weltmeisterschaft keinen einzigen Sieg eingefahren. Dann verloren wir zum Auftakt gegen England, gewannen gegen Kuwait, Nordirland und Österreich und spielten unentschieden gegen die Tschechen. Keine außergewöhnliche Bilanz, oder? Ins Halbfinale zu kommen, war wie ein Wunder.
Schaut man sich den Turnierverlauf in Spanien an, war es auch für die DFB-Elf ein Wunder, dorthin zu gelangen.
Rummenigge: Wir hatten uns im Verlauf des Turniers gesteigert, aber natürlich war uns bewusst, dass Frankreich ein harter Brocken wird.
Das Halbfinale 1982 wurde überschattet von Toni Schumachers Foul an Patrick Battiston. Die Medien erkannten in der Aktion des Keepers den hässlichen, brutalen Deutschen wieder. Ein Motiv aus längst vergangenen Zeiten.
Platini: Es liegt in der Natur von Journalisten, solche Vergleiche anzustellen. Wir Spieler haben nie so gedacht. Natürlich war es überhaupt nicht gut, wie sich Schumacher an diesem Abend verhielt. Weder in dem Moment, als er Battiston verletzte, als auch nach Ende des Spiels. Er kam nicht vorbei, um sich zu entschuldigen. Er ging mit der Situation sehr arrogant um. Das macht dieses Spiel so problematisch. Sonst wäre es einfach als großartiges WM-Match in die Geschichte eingegangen.
Haben Sie eine Erklärung für Schumachers Verhalten?
Platini: Es lag in seiner Spielweise, den Gegner sehr körperbetont und aggressiv anzugehen.
Rummenigge: Toni war komisch drauf an diesem Abend. Ich erinnere mich, wie wir nach dem Spiel in der Kabine feierten. Er saß ganz allein in der Ecke. Ich sagte zu ihm: „Komm, Toni, wir gehen rüber und entschuldigen uns. Wir müssen doch wissen, was mit dem Spieler los ist.“ Es schien mir eine wichtige Geste zu sein.
Aber?
Rummenigge: Toni war an diesem Abend in seiner eigenen Welt. Er antwortete: „Es geht nicht, ich kann das nicht tun.“
In seinem Buch „Anpfiff“ begründet er seine Aggressionen auch damit, dass er mit Ephedrin gedopt war.
Rummenigge: Ich habe sein Buch nie gelesen, aber Toni war ein spezieller Typ. In den Ligaspielen gegen den 1.FC Köln bin ich Zweikämpfen mit ihm auch stets aus dem Weg gegangen.
Sie kamen in Sevilla erst in der siebten Minute der Verlängerung ins Spiel.
Rummenigge: Ich hatte eine Muskelverhärtung im Oberschenkel. Als Michels Team immer stärker wurde, bat ich unseren Masseur Erich Deuser mir Eis zu geben. Vom Ersatzkeeper lieh ich mir einen Handschuh, wickelte das Eis darin ein und begann, den Oberschenkel zu massieren. Dann fiel in der Verlängerung das 2:1 und Trainer Derwall fragte, ob ich spielen könne. Ich sagte: „Ich weiß nicht, ob es schlau ist, aber das müssen Sie entscheiden!“ Da fiel das 3:1 für die Franzosen. Und ich dachte: „Vielleicht ist es besser, wenn ich mich wieder hinsetze…“
Platini: …das wäre definitiv besser gewesen. (Beide lachen.)
Rummenigge: Aber Derwall wechselte mich ein – und mir gelang postwendend der Anschlusstreffer. Und als ich zurück zum Anstoßkreis lief, sah ich in den Gesichtern der Franzosen, dass sich etwas verändert hatte. Da war etwas wie … Angst.
Platini: Wir hatten keine Angst. Aber machen Sie sich die Situation klar. Wir konnten nicht mehr auswechseln. Wir hatten Gengheni gegen Battiston ausgetauscht und der lag nun im Krankenhaus. Und die Deutschen brachten erst spät im Spiel Hrubesch und schließlich Kalle aufs Feld – die beiden besten Stürmer in Europa zu dieser Zeit. Und die preschten jetzt auf uns zu, gemeinsam mit Littbarski und Fischer. Und Sie wissen, was passierte, wenn Briegel Fahrt aufnahm? Bei uns standen diesen Spielern Tigana und Giresse gegenüber, die 60 Kilo wogen. Ich beorderte Janvion zu Hrubesch und Lopez zu Rummenigge. Aber es half nichts. Uns fehlte die Erfahrung, um taktisch klug mit dieser Situation umzugehen.
„Mon dieu, Rummenigge“.
Rummenigge: Angeblich soll Präsident Mitterand das gerufen haben, als er hörte, dass ich eingewechselt werde. Ich weiß nicht, ob es stimmt.
Platini: Das Foto, auf dem sich Mitterand und Kohl auf den Schlachtfeldern von Verdun die Hände reichen, war sehr wichtig für das Verhältnis unserer Länder.
Rummenigge: Viel wichtiger, als alle Fußballspiele zwischen unseren Teams.
Es gibt Philosophen, die glauben, Fußball sei heute die Fortführung kriegerischer Auseinandersetzung mit anderen Mitteln.
Platini: Fußball als Krieg? Das ist Unsinn.
Rummenigge: Absoluter Unsinn. Wir dürfen Fußball nicht so aufladen. Es ist und bleibt ein Spiel – das Spiel, das wir als Kinder auf dem Bolzplatz gespielt haben. Die heutigen Profis sind doch keine Feinde, die kennen sich alle sehr gut, sind teilweise befreundet, weil sie sich in der Champions League ständig treffen.
Platini: Im Übrigen sind für uns Franzosen traditionell die Engländer die viel größeren Rivalen auf dem Rasen, so wie für Euch lange Zeit die Niederländer die größten fußballerischen Widersacher waren.
Rummenigge: Dennoch muss Euch Sevilla lange im Gedächtnis geblieben sein: Als ich Jahre später mal einen Spaziergang am Champs-Elysée machte, erkannten mich einige Passanten. Und weißt Du, was Sie riefen?
Platini: Na?
Rummenigge: Nicht etwa meinen Namen, sie sagten nur: Quatre vingt-deux!
Platini: So alt siehst du gar nicht aus. (Lacht.)
Michel Platini, Sie haben mal gesagt, dass es kein Spiel in Ihrem Leben gibt, das Ihnen emotional mehr gegeben habe als Sevilla 1982.
Platini: Weil die Bandbreite der Empfindungen so groß war. Als Fußballer erleben Sie Siege und Niederlagen, aber 120 Minuten und ein Elfmeterschießen, das Sie durch so unterschiedliche Gefühlswelten trägt, erlebt ein Spieler nur sehr selten. Natürlich war Sevilla für Millionen Franzosen ein Trauma – für mich aber war es eine unvergessliche Nacht, an deren Ende der Glücklichere den Platz als Sieger verließ. Für mich brachte das Spiel auch die Erkenntnis, dass wir endlich eine große Mannschaft haben. Ein Erweckungserlebnis des französischen Fußballs. Ohne dieses Spiel wären wir zwei Jahre später nicht Europameister geworden und es hätte bei uns nie einen Fußball-Boom gegeben, der sich bis in die Gegenwart auswirkt.
Welchen Platz nimmt das Spiel in Ihrer Karriere ein, Karl Heinz Rummenigge?
Rummenigge: Vielleicht waren es die besten 23 Minuten, die ich in meiner Laufbahn gespielt habe. Und: Es war ein Wendepunkt! Danach führte die FIFA flächendeckend eine K.O.-Runde bei der WM ein, es war das Ende der zweiten Gruppenphase. Die Weltmeisterschaft in Spanien war bis dato nicht besonders hochklassig, aber nach dem Match sagte jeder: Das wollen wir sehen. Ein historisches Spiel, so wie das „Jahrhundertspiel“ 1970 zwischen Deutschland und Italien. Jeder Profi möchte in seiner Karriere Teil eines solchen Matches sein.
Platini: Ich sprach mit Franz Beckenbauer über das Halbfinale von 1970. Er sagte, bis auf die Verlängerung war es ein langweiliges Spiel. Sevilla aber war in jeder Hinsicht ein großes Duell.