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Pierre Litt­barski, wann reifte in Ihnen der Plan, mit Fuß­ball spielen Geld zu ver­dienen?
Sehr spät. Mein Vater war Finanzrat und wollte, dass ich in seine Fuß­stapfen trete. Ich über­re­dete meinen Kumpel Stefan Müller und begann zusammen mit ihm die Aus­bil­dung zum Finanz­be­amten. Stefan hat mir das bis heute nicht ver­ziehen (lacht). Gut, dachte ich mir, mach was Solides und spiel nebenbei ein wenig Fuß­ball.

Bis der Anruf vom 1. FC Köln kam.
Im Sommer 1978 traten wir mit Hertha Zehlen­dorf bei den Deut­schen A‑Jugendmeisterschaften an, auf dem Weg ins Finale schmissen wir den FC aus dem Wett­be­werb. Weil ich in beiden Spielen über­zeugt hatte, bekam ich plötz­lich ein Angebot von Kölns Manager Karl-Heinz Thielen. Thielen hatte zuvor bei Trainer Hennes Weis­weiler durch­ge­klin­gelt, der nur mäßig begeis­tert gewesen war. Er fragte: Is ett wenigs­tens ´ne Stürmer?“ Thielen setzte sich für mich ein und über­re­dete den Chef.

Schon nach wenigen Spielen der Saison 1978/79 wurden Sie von der Kölner Presse in den Himmel gelobt. Wie sind Sie damit umge­gangen?
Meine Mit­spieler sorgten dafür, dass ich mir darauf nicht viel ein­bil­dete. Roger van Gool, der erste Mil­lionen-Mann der Bun­des­liga, saß wegen mir plötz­lich auf der Bank. Vor meinem Debüt kam er in die Kabine, schaute mich an und sagte: Heute machst Du Dein letztes Spiel!“

Mussten Sie die obli­ga­to­ri­schen Grät­schen im Trai­ning ertragen?
Natür­lich. Mit meiner Spiel­weise war ich die per­fekte Ziel­scheibe. Im Laufe der Zeit lernte ich dann, mich zu wehren. Ich erin­nere mich an ein Test­spiel gegen einen Kreis­liga-Verein. Nach einem rüden Foul gegen mich griff sich Paul Steiner, selbst kein Kind von Trau­rig­keit, den Treter: Junge, warte mal ab.“ Der lachte nur und drehte sich weg. Ich bin nicht stolz darauf, aber wenige Minuten später legte ich mir absicht­lich den Ball zu weit vor und sprang dem Kerl ordent­lich in die Beine.

Sie konnten auch anders.
Ich musste anders. Nicht immer blieb das fol­genlos. Vor der WM 1986 trafen wir im UEFA-Cup-Finale auf Real Madrid. Bei Real spielte der Mexi­kaner Hugo San­chez, der viel­leicht unfairste Fuß­baller, den ich je erlebt habe. Kein Witz: Der trug vorne und hinten Schien­bein­schoner! Ich erwischte ihn trotzdem so, dass er aus­ge­wech­selt werden musste. Kurz darauf trafen wir bei der WM in Mexiko ein. Noch am Flug­hafen wurde ich von den Medien in die Mangel genommen. Tenor: Sie haben unser Idol kaputt­ge­treten!

Hatten Sie als gebür­tiger Ber­liner im fernen Köln nicht Heimweh?
Meine neuen Nach­barn sorgten dafür, dass ich mich bald hei­misch fühlte. Im ersten Jahr wohnte ich mit meiner spä­teren Frau in einem 32-qm-Apar­te­ment im Uni-Center. Links wohnten Zuhälter, rechts Damen aus dem Gewerbe. Die schlossen mich gleich in ihr Herz. Am ersten Tag stand ich mit meinem Müll­beutel im Haus­flur, als eine Frau im Bade­mantel und tiefem Dekol­leté auf­tauchte, mich an die Hand nahm und mir den Müll­schacht zeigte. Wenn ich mit meiner Sport­ta­sche über der Schulter auf meinem Moped zum Trai­ning fuhr, winkte mir das halbe Rot­licht­viertel zu. Och, schau mal, der Kleene, ist der süß!“, hörte ich es aus den Fens­tern rufen.

Haben Sie wirk­lich nichts ver­misst?
Doch, die Ber­liner Cur­ry­wurst! Für 1000 Mark kaufte ich Toni Schu­ma­cher seinen alten VW-Käfer ab und gon­delte regel­mäßig die sieben Stunden quer durch die Zone nach Berlin. Bei jedem Hei­mat­be­such nahm ich einen kleinen Vorrat vom Ver­käufer meines Ver­trauens am Ku´damm mit nach Köln.

Pierre Litt­barski

Wurde am 16. April 1960 in Berlin geboren. Zwi­schen 1978 und 1993 stand er 406 Mal für den 1. FC Köln auf dem Platz, 1983 schoss er seinen Klub im Finale gegen For­tuna Köln zum DFB-Pokal-Tri­umph. Nach zwei Vize­ti­teln 1982 und 1986 wurde »Litti« 1990 Welt­meister. 1997 been­dete er seine Spie­ler­kar­riere in Japan und wurde Trainer. Nach Sta­tionen in Yoko­hama, Lever­kusen, Duis­burg, Sydney, Fukuoka, Teheran und Vaduz lan­dete er schließ­lich 2010 beim VfL Wolfs­burg, für den er heute zunächst als Co-Trainer anfing, dann Chef­scout wurde und nun im Mar­ke­ting arbeitet.

In der Medi­en­stadt Köln reiften Sie bald zum natio­nalen Star. Fotos aus der Zeit zeigen Sie als Sun­nyboy mit Gold­kett­chen und blonden Strähn­chen in den Haaren. Wollten Sie sich bewusst vom eher bie­deren Stil Ihrer Kol­legen absetzen?
Dazu passt die Begeg­nung, die ich vor einigen Jahren mit dem bra­si­lia­ni­schen Natio­nal­trainer Felipe Sco­lari hatte. Der sagte mir zur Begrü­ßung: Du bist kein Deut­scher. Du bist ein Bra­si­lianer. Schau Dir nur an, wie Du Fuß­ball gespielt hast!“ Das heißt, mein Spiel­stil war schon einmal alles andere als deutsch. Und zu den Haaren: Schon zu meiner Schul­zeit bewun­derte ich die Mähne meines Mit­schü­lers und spä­teren Hertha-Spie­lers Robert Jüttner. Der kam eines Tages mit einer wasch­echten David-Bowie-Frisur in die Klasse und konnte an keinem Spiegel mehr vor­bei­gehen. In Köln bin ich dann irgend­wann zu einem Sze­ne­fri­seur, um mir auch eine spek­ta­ku­läre Mähne machen zu lassen. Nach dem ersten Färben war die Hälfte meiner Haare blond wie Stroh. Ich saß bis acht Uhr abends in diesem Laden, um die Frisur noch halb­wegs zu retten – zwecklos. Natür­lich haben sich meine Mit­spieler kaputt­ge­lacht. Da sagte ich mir: Jetzt lässt du die Haare erst recht so.

Nicht die ein­zige modi­sche Extra­va­ganz.
Ich habe alles aus­pro­biert. In einem Trai­nings­lager ließ ich mir mit Frank Orde­ne­witz jeweils einen halben Bart stehen. Er die rechte Gesichts­hälfte behaart, ich die linke. Sah über­ra­gend aus.

Haben Sie sich jemals als Pop­star gefühlt?
Eigent­lich nicht. Wobei die Inhalte der Fan­post spä­tes­tens nach meiner ersten WM 1982 immer kurioser wurden. Nicht selten schrieben mir junge Frauen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, dass Sie ein Kind von mir erwarten würden. Mit dem Zusatz: Es könnte aber auch von Thomas Kroth oder Ste­phan Engels sein, da bin ich mir nicht so sicher.“

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1982 fuhren Sie zu Ihrer ersten Welt­meis­ter­schaft. Welche Erin­ne­rungen haben Sie an den Zusam­men­prall zwi­schen Toni Schu­ma­cher und Frank­reichs Patrick Bat­tiston im Halb­fi­nale?
Wie heftig das wirk­lich war, erkannte ich erst bei den Fern­seh­bil­dern. Ich glaube, Toni befand sich nach der Aktion in einer Art Schock­zu­stand. Er machte alles falsch, was man falsch machen konnte: Statt Mit­ge­fühl zu zeigen und sich um Bat­tiston zu küm­mern, stand er reglos in seinem Tor und wirkte dabei so auf­rei­zend unbe­tei­ligt.

Sie waren und sind mit Schu­ma­cher befreundet, er war sogar Ihr Trau­zeuge. Haben Sie mit ihm später über diese Szene gespro­chen?
Mehr als einmal. Auf mich wirkte er damals wie ein kleines Kind, dass sich die Finger ver­brannt hatte, das aber nicht zugeben wollte. Toni war einer der här­testen Typen im Fuß­ball und in diesem Moment stand er irgendwie zwi­schen den Stühlen: Er wollte gleich­zeitig weiter den harten Mann mimen und wusste doch ganz genau, dass er diesmal eine Grenze über­schritten hatte.

Haben Sie mit den hef­tigen Reak­tionen auf das Schu­ma­cher-Foul gerechnet?
Das hat uns alle über­for­dert. Noch auf dem Rückweg hielt man uns vier Stunden am Flug­hafen von Sevilla fest, die Flug­lotsen ver­zö­gerten die Abreise. Die Medi­en­be­richte haben wir natür­lich auch wahr­ge­nommen. Ich fand das alles extrem traurig, weil plötz­lich nie­mand mehr über unsere sport­li­chen Leis­tungen sprach.

Bei der WM 1986 wurden Sie nur als Joker ein­ge­setzt. Hand aufs Herz: Auf der Ersatz­bank saßen Sie mit geballten Fäusten in der Tasche.
Nein, da war ich doch selbst­kri­tisch genug, schließ­lich hatte ich mich kurz vor dem Tur­nier ver­letzt und war ein­fach nicht fit genug, um in jedem Spiel einen Stamm­platz zu for­dern.

In Ihrer Bio­grafie fassen Sie dieses Tur­nier kurz und knapp zusammen: Es war grausam.“ War es wirk­lich so schlimm?
1986 waren wir keine Mann­schaft. Beim Essen saßen Ham­burger, Kölner und Mün­chener an getrennten Tischen. Ich konnte als Ein­ziger mit allen drei Tischen, war mit vielen Ham­bur­gern und Mün­che­nern befreundet. Ich werde nicht ver­gessen, wie mich eines Tages Franz Becken­bauer und Egi­dius Braun zur Seite nahmen: Litti, Du bist unser Ver­mittler. Wir müssen die Mann­schaft an einen Tisch bekommen!“ Ich ant­wor­tete nur: Das ist euer Job!“ Ich war froh, als die WM vorbei war.

Nach der WM 1986 wech­selten Sie zu Racing Paris, kehrten aller­dings nach nur einer Saison zurück zum 1. FC Köln. Hatte man Ihnen das Halb­fi­nale 1982 noch nicht ver­ziehen?
Ich weiß nicht, ob das damit etwas zu tun hatte. Eines Tages prangte jeden­falls ein großes Haken­kreuz auf meinem Gar­ten­zaun, ver­mut­lich war das aber nur ein ein­zelner Fana­tiker. Dass ich nur ein Jahr in Paris blieb, hatte sport­liche Gründe. Ich fand in Frank­reich ein­fach nicht zu meiner Form.

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Ein ver­schenktes Jahr?
Ganz und gar nicht. Wenn ich mich damals nicht zu dem Wechsel nach Paris ent­schieden hätte, wäre ich ver­mut­lich nie nach Japan gegangen. Weil ich mich nicht getraut hätte. Das Jahr in Frank­reich hat mir gezeigt, dass man neue Kul­turen und neue Umge­bungen aktiv annehmen muss, wenn man die Welt ken­nen­lernen will. Stun­den­lang fuhr ich damals mit meinem Renault R5 durch die Straßen von Paris, um das Leben in dieser Stadt auf­zu­saugen. Und die Frus­tra­tion über die vielen Dinge, die im Verein schief liefen, hatten auch was Gutes: Ich lernte bei meiner Rück­kehr viele kleine Sachen zu schätzen, die ich vorher gar nicht wahr­ge­nommen hatte.

Zum Bei­spiel?
In Paris wurde mir vor der Saison Trikot, Hosen und Stutzen in die Hand gedrückt, waschen mussten wir die Kla­motten selber. In Köln hingen am ersten Tag meine Sachen ordent­lich im
Spind. Das war mir zuvor gar nicht auf­ge­fallen, jetzt fand ich das auf einmal ganz wun­derbar

1990 gelang Ihnen der ganz große Wurf. Wann wurde Ihnen bewusst, dass sie gut genug waren, um Welt­meister zu werden?
Gleich im ersten Grup­pen­spiel gegen Jugo­sla­wien. Lothar Mat­thäus war an diesem Tag ein­fach über­ra­gend, nach 70 Minuten stand es 4:1 für uns. Ich saß zu diesem Zeit­punkt auf der Bank, schaute nach rechts, schaute nach links, sah Andy Möller, Olaf Thon, Karl-Heinz Riedle, diese ganzen Gra­naten und dachte: Du kannst froh sein, wenn du bei diesem Kader auch mal spielen darfst.

Sie sollen extrem wütend gewesen sein, als Franz Becken­bauer Sie wäh­rend des Halb­final-Spiels gegen Eng­land nur auf der Bank ließ.
Wäh­rend des Vier­tel­fi­nals gegen Tsche­chien hatte mich Jozef Cho­vanec hart abge­grätscht, ich spürte gleich einen Schmerz im Knie. Ver­mut­lich war mein Kreuz­band da schon ange­rissen. Vor dem Halb­fi­nale konnte ich nur unter Schmerzen trai­nieren, Schüsse mit rechts gingen gar nicht. Becken­bauer blieb keine andere Wahl, als mich draußen zu lassen. Aber ich war fuchs­teu­fels­wild und musste in letzter Minute von unserem dama­ligen Pres­se­spre­cher Wolf­gang Niers­bach vor einer Dumm­heit bewahrt werden.

Was war Ihr Plan?
Gemeinsam mit Uwe Bein wollte ich vor die Presse treten und Franz Becken­bauer an die Wand nageln.

Der ließ Sie im Finale wieder spielen. Sie wurden Welt­meister.
Und eigent­lich hätte ich auch in diesem Spiel nicht auf dem Platz stehen dürfen. Mein Knie tat immer noch weh. Aber ich sagte zu unseren Phy­sio­the­ra­peuten Adolf Kat­zen­meier und Hans Montag: Wenn ihr dem Franz was sagt, dann seid ihr für mich gestorben!“ Sie behan­delten mich die ganze Nacht lang, hielten den Mund und ich spielte.

Auf den Jubel­fotos sieht man Sie stets in der vor­dersten Reihe. Haben Sie den Pokal mit ins Bett genommen?
Ers­tens haben wir in dieser Nacht nicht geschlafen und zwei­tens war ich daran nicht unbe­tei­ligt: Schon 1982 hatte ich zwei rie­sige Koffer dabei – einen mit Kla­motten, einen mit meiner Sound­an­lage und meinem Amiga 500 mit dem Klas­siker Space Inva­ders“. Das wurde näch­te­lang gezockt. Und 1990 küm­merte ich mich als DJ um unser musi­ka­li­sches Wohl­ergehen. Die Nacht nach dem Titel­ge­winn fei­erten wir durch und ich brachte einen Hit nach dem anderen. The Sweet“ und Queen“ standen ganz hoch im Kurs! Bis auf Lothar Mat­thäus, der sich nach jedem Glas immer schnel­lere Musik wünschte, gab es keine Klagen.

Nach der WM kam es zum Skandal. Sie brachten ein Foto-Tage­buch auf den Markt und mussten sich von Lothar Mat­thäus den Vor­wurf gefallen lassen, auf Kosten der Mann­schaft den großen Rei­bach zu machen.
Eine lächer­liche Sache. Ein Kölner Foto­graf hatte mir vor dem Tur­nier eine Kamera in die Hand gedrückt, die Idee war fol­gende: Ich schieße ein paar Fotos, wir lassen das dru­cken und ver­kaufen das Buch für den guten Zweck. Mein Fehler war nur, dass ich meine Mit­spieler nicht um Erlaubnis gefragt hatte. Nach einem Tele­fonat mit Lothar war die Geschichte wieder aus der Welt.

Wenige Wochen nach der WM ließen Sie sich am Kreuz­band ope­rieren und fielen für sechs Monate aus. Im April 1991 fei­erten Sie im Pokal-Vier­tel­fi­nale gegen den VfB Stutt­gart und Ihren ehe­ma­ligen Trainer Chris­toph Daum das Come­back.
Das war das emo­tio­nalste Spiel meine Kar­riere. Gemeinsam mit Trainer Erich Rutem­öller tricksten wir die Stutt­garter aus: In meinem aller­ersten Trai­ning mit der Mann­schaft kurz vor der Partie hum­pelte ich mit schmerz­ver­zerrter Miene in die Kabine. Fans und Jour­na­listen klopften mir mit­füh­lend auf die Schul­tern. Aber ich hatte nur geblufft. Als die Auf­stel­lung im Mün­gers­dorfer Sta­dion bekannt gegeben wurde, fehlte hinter der 10“ mein Name. Das Raunen der Zuschauer hörte ich bis in die Kabine. Und kurz bevor wir auf den Rasen liefen, leuch­tete hinter der Nummer plötz­lich Pierre Litt­barski“ auf. Die Leute flippten aus. Ich gab die Vor­lage zum ent­schei­denden 1:0 in der Ver­län­ge­rung. Schö­nere 120 Minuten habe ich als Fuß­baller nie erlebt.

Sie gelten als einer der größten Spaß­vögel der Bun­des­li­ga­ge­schichte – welche Rolle spielte Humor in Ihrem Dasein als Fuß­baller?
Die kleinen Gags waren zunächst einmal wesent­li­cher Bestand­teil der psy­cho­lo­gi­schen Kriegs­füh­rung. Heute würde man das Trash­talk“ nennen. In dieser Dis­zi­plin gab es rich­tige Könner, die sich in der Woche vor dem Spiel durch sämt­liche Klatsch­blätter lasen und am Spieltag dann mit pikanten Details aus dem Pri­vat­leben des Gegen­spie­lers punkten konnten. Ich machte mich eben über die langen Beine von Guido Buch­wald lustig.

Ihr gelun­genster Trash­talk“?
Die Bayern reizten wir mal vor dem Anpfiff so vehe­ment, dass mein Natio­nal­mann­schafts­kumpel Andy Brehme zu mir kam und sagte: Litti, lass mich doch heute raus aus der Scheiße. Ich will ein­fach nur dieses Spiel über­stehen.“ Da wusste ich: Wir hatten ihn!

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Zeigten die Sprüche der Kol­legen bei Ihnen Wir­kung?
Erst später, am Ende meiner Lauf­bahn, als sich mein Alter und die Ver­let­zungen bemerkbar machten. Wenn dann einer sti­chelte: Na, Litti, du bist aber auch nicht mehr der Alte“, dann traf mich das, weil es stimmte. Die Gags über meine Kör­per­größe oder die O‑Beine, durch die man angeb­lich ganze Rin­der­herden schi­cken konnte, hatten sich dagegen sehr bald abge­nutzt.

Hatten Sie jemals das Gefühl, dass Sie Ihre phy­si­sche Erschei­nung irgendwie kom­pen­sieren mussten?
Als junger Mann ganz bestimmt. Die Deut­schen wollen Mit­men­schen, die Erfolg haben, min­des­tens einmal so richtig im Dreck liegen sehen.

Wie sind Sie früher damit umge­gangen? Brauchten Sie auch mal eine starke Schulter?
Sich bei anderen aus­heulen war nie mein Ding. Der Fuß­ball war meine The­rapie. Des­halb war es manchmal auch so schwer, mich vom Platz zu kriegen. Unzäh­lige Stunden bolzte ich nach noch dem Trai­ning weiter, bis mich die Trainer regel­recht in die Kabine zerren mussten.

Hatten Sie ein Pro­blem damit, dass man Sie, einen Welt­meister und ver­dienten Bun­des­li­ga­spieler, noch Anfang der Neun­ziger in Zei­tungs­be­richten als Kobold mit den krummen Beinen“ bezeich­nete?
Absolut, das ging mir irgend­wann auf den Keks.

Warum insze­nierten Sie sich dann bei der legen­dären Dingsda“-Parodie wäh­rend der WM 1990 mit Thomas Häsßer oder bei Gast­auf­tritten als Her­bert-Feu­er­stein-Double in der Sen­dung Schmidtein­ander“ 1992 als lus­tigen Fuß­ball-Clown?
Weil ich Spaß daran hatte. Dingsda“ war spon­tane Stand-up-Comedy, Schmidtein­ander“ war pro­fes­sio­nelle Komik und die gefiel mir. Was mich störte war, dass die Medien immer nur eine Facette meiner Person zeigten: die des Clowns. Meine sport­li­chen Leis­tungen wurden eher am Rande erwähnt.

Viel­leicht haben Sie mit Ihren lus­tigen Auf­tritten diese Wahr­neh­mung aber nur ver­stärkt.
Ich habe nie nach Kalkül gehan­delt, son­dern ein­fach drauf los gelebt. Mat­thias Sammer ist da zum Bei­spiel anders, der ver­sucht mit jeder Geste und jeder Aus­sage eine bestimmte Wir­kung zu erzielen. Nur wenige wissen wahr­schein­lich, wie akri­bisch ich in meinen letzten Jahren beim FC auch abseits des Platzes gear­beitet habe. Da war der lus­tige Litti ganz weit weg.

Was meinen Sie?
Zur Vor­be­rei­tung auf kom­mende Spiele schnitt ich mit meiner VHS-Anlage Sequenzen zurecht, heu­tigen Scou­ting­be­richten nicht unähn­lich. Eine sehr auf­wän­dige Arbeit. Ich erstellte Sta­tis­tiken von den geg­ne­ri­schen Mann­schaften, druckte sie aus und gab sie meinen Mit­spie­lern. Oder die Geschichte mit den an die Wand gena­gelte 20.000 DM Meis­ter­schafts­prämie vor einem Spiel gegen Werder Bremen – das war meine Idee! Ich sagte Chris­toph Daum: Besorg die Kohle, besser können wir die Jungs nicht moti­vieren!“ Bis heute kam noch nicht heraus, dass das eigent­lich meine Idee war. Solche Geschichten machte ich damals nicht publik, ärgerte mich aber trotzdem über die ver­zerrte Wahr­neh­mung.

Glauben Sie, man hätte Sie anders behan­delt, wenn Sie ein 1,90 Meter großer Spaß­vogel gewesen wären?
Ich denke schon. Die Statur und Größe spielt in Deutsch­land bei der Bewer­tung eines Men­schen eine große Rolle.

Haben Sie Ihren Humor als eine Art Schutz­weste genutzt?
In der Schule schon. Als Fuß­baller hatte ich meine Titel und Erfolge, die mir einen gewissen Panzer ver­liehen. Meinen Humor habe da wirk­lich nur benutzt, um Spaß zu haben und Spaß zu ver­breiten.

Warum sind Sie 1993 nach Japan gegangen?
Schon 1992 bekam ich ein Angebot von den Urawa Red Dia­monts, aber das lehnte ich ab. Im Früh­jahr 1993 mel­dete sich dann mein ehe­ma­liger Mit­spieler Yasu­hiko Oku­dera bei mir, der beim Aufbau der neu­ge­grün­deten J‑League“ mit­half und mich zu JEF United Ichi­hara locken wollte. Ich sagte: Oki, was soll ich denn da? Ich mag keinen Fisch, ich mag keinen Salat – ich werde dort ver­hun­gern. Ich weiß noch nicht mal, wo Japan genau liegt!“ Er ant­wor­tete mir: Wenn du einmal hier bist, wirst du es lieben.“

Und Sie stiegen sofort ins nächste Flug­zeug?
Es dau­erte, bis er mich über­redet hatte. Schließ­lich sagte ich doch zu, auch, weil es mir in Köln nicht mehr gefiel. Fünf Monate waren zunächst abge­macht. Am 29. Spieltag sicherte ich mit zwei Toren gegen Nürn­berg den Klas­sen­er­halt und ver­ließ den FC noch vor dem Sai­son­ende. Mit zwei großen Kof­fern reiste ich nach Tokio, in einem waren Kla­motten, in dem anderen Lebens­mittel. Butter und Scho­ko­lade. Als ich ankam, waren es 40 Grad, meine Win­ter­jacke zog ich aus, die Butter war geschmolzen. Dafür war­teten 5000 Fans und Dut­zende Jour­na­listen auf mich. Ich war völlig geplättet, mit so einer Euphorie hatte ich nie im Leben gerechnet. Ich dachte nur: Woher kennen die dich?

Wann fassten Sie den Ent­schluss, in Japan zu bleiben?
Schon nach wenigen Tagen. Es war exakt so, wie es Oku­dera mir pro­phe­zeit hatte. Dafür ging meine erste Ehe in die Brüche. Meine Frau flog zurück nach Deutsch­land und blieb mit meinen Kin­dern dort. Es war eine harte Ent­schei­dung, aber ich blieb in Japan. Wenige Wochen später lernte ich meine heu­tige Frau kennen. Sie zeigte mir ihr Land und machte mir die Ein­ge­wöh­nung sehr leicht. Den Preis, den ich für dieses neue Leben zahlen musste, war hoch: Heute habe ich nur noch Kon­takt zu einer meiner Töchter aus erster Ehe.

Sie wurden mit einer unglaub­li­chen Begeis­te­rung emp­fangen. Welche Blüten trieb dieser Hype um Ihr Person?
Unser Haupt­sponsor, die japa­ni­sche Eisen­bahn-Gesell­schaft, ernannte mich für einen Tag zum Ehren­schaffner, ich durfte den Bahnhof durch den Ein­gang der kai­ser­li­chen Familie betreten und An- und Abfahrten leiten. Aus deut­scher Sicht klingt das kurios, in Japan ist das eine sehr große Ehre. Bald schon konnte ich nicht mehr ohne Tar­nung aus dem Haus gehen, mehr­fach musste die Polizei ein­greifen, um die Men­schen­massen auf­zu­lösen, wenn ich irgendwo einen Kaffee trinken wollte oder ein Fuß­ball­spiel besuchte.

Sie blieben acht Jahre in Japan, been­deten dort Ihre aktive Kar­riere, machten den Trai­ner­schein und grün­deten eine neue Familie – was fas­zi­nierte Sie an diesem Land?
Vor allem der Umgang mit­ein­ander, dieser Respekt, mit dem sich die Men­schen behan­deln. In Deutsch­land bildet man sich in Sekun­den­schnelle ein Urteil, häufig sogar ein Vor­ur­teil, ohne den Men­schen zu kennen. Die Japaner bilden sich ihr Urteil erst, wenn sie in Ruhe dar­über nach­ge­dacht haben. Ich sog die ganze Lebens­phi­lo­so­phie, das soziale und kul­tu­relle Mit­ein­ander in mich auf. Felipe Sco­lari hat gesagt, ich sei ein Bra­si­lianer. Aber er hatte Unrecht: Im Herzen bin ich scheinbar ein Japaner.

Wie hat Sie die Zeit in Japan ver­än­dert?
Ich bin dort neu geboren worden. Nicht, dass ich mit meinem bis­he­rigen Leben unzu­frieden gewesen wäre, aber in Japan fand ich neues Zuhause und eine innere Ruhe, die mich auch heute noch leitet und begleitet.

Wenn es so schön war in Japan, warum sind Sie dann 2001 als Co-Trainer von Berti Vogts bei Bayer Lever­kusen nach Deutsch­land zurück­ge­kehrt?
Alte Ver­pflich­tungen. Berti hatte mich als U‑21-Trainer einst zum A‑Nationalspieler geformt, jetzt bat er um eine kleine Gegen­leis­tung. Rainer Cal­mund rief mich an und sagte: Der Berti will nur Trainer werden, wenn du sein Assi wirst!“ Ich flog nach Lever­kusen, ließ mich von Calli bequat­schen und blieb da.

Schon nach einem halben Jahr war Ihre Zeit in Lever­kusen beendet, Ihr anschlie­ßender Job als Chef­trainer beim MSV Duis­burg war nach einem Jahr vorbei. Bereuen Sie Ihre Rück­kehr nach Deutsch­land?
Nein. Mit Lever­kusen hätten wir ein­fach Meister werden müssen, so ein­fach ist das. Die Mann­schaft war ja stark genug. Und Duis­burg war zwar von Beginn an eine Tod­ge­burt – der Verein war pleite – aber ich fand die Arbeit trotzdem sehr span­nend.

Gibt es eine japa­ni­sche Lebens­weis­heit, die Ihnen beson­ders zuspricht?
Viel­leicht diese hier: Die Leute ver­schwenden viel zu viel Zeit über Pro­bleme zu spre­chen, als die Zeit zu nutzen, um Pro­bleme zu lösen.“

Fällt Ihnen dazu ein kon­kretes Bei­spiel aus dem Alltag ein?
2011, nach dem ver­hee­renden Tsu­nami, flog ich nach Japan. Das Fern­sehen zeigte eine Frau, die auf einer Brücke stand und auf einen rie­sigen Schutt­haufen blickte, der einmal ein Dorf gewesen war. Warum stehen Sie hier?“, fragte der Jour­na­list. Da vorne war mein Haus“, ant­wor­tete sie. Und warum stehen sie dann hier?“ Meine beiden Brüder, meine Mutter und mein Vater sind hier gestorben.“ Warum sind sie dann noch hier?“ Und sie ant­wor­tete: Weil ich unser Haus wieder auf­bauen werde. Aus genau diesen Steinen.“