Der Spielfilm „Tigers“ erzählt die wahre Geschichte eines jungen Fußballers, der es in die Jugendakademie von Inter Mailand schafft – und sich dort das Leben nehmen will.
„Tigers“, im Original „Tigrar“, war dieses Jahr der schwedische Beitrag für die Oscarverleihung. Heute läuft er als Eröffnungsfilm des Fußballfilmfestivals 11-mm im Berliner Babylon-Kino. Das komplette Programm gibt es hier.
„It will be fine!“, sagt der Berater zu Beginn des Films „Tigrar“, und der junge Fußballer nickt. Die beiden sitzen in einem Restaurant in ihrer Heimat Schweden. Der Spieler ist 17, aber er sieht jünger aus. Er hat ein hageres Gesicht, eine Zahnspange, die Haare trägt er raspelkurz. Er wirkt nervös, unsicher, aber auch gespannt. Er ist ein talentierter Fußballer, einer der Besten seines Landes, und er hat das geschafft, wovon viele Kinder träumen: Er ist Profi geworden, und nun hat ihn Inter Mailand verpflichtet. In wenigen Tagen wird er die Akademie des Serie-A-Klubs besuchen, das Interello. It will be fine.
In Wahrheit wird in den kommenden Monaten wenig gut im Leben des jungen Fußballers, und das hat auch damit zu tun, dass er nicht nur Fußballer sein will. Dass er zweifelt. Dass er Emapthie und Zerbrechlichkeit zeigt in einer Welt, die immerzu Stärke, Fokussierung und Leistung fordert. Nach einem Dreivierteljahr in der Jugendakademie unternimmt er einen Selbstmordversuch.
Vor elf Jahren trafen wir Martin Bengtsson zum ersten Mal. Er hatte uns angeschrieben und von seiner Autobiografie erzählt, die 2007 auf Schwedisch erschienen war. „I skuggan av San Siro“. Im Schatten von San Siro. Bengtsson war damals einer der ersten Fußballer, der offen über psychische Erkrankungen im Profisport sprach. Depression war ein Tabuthema, erst recht im Leistungssport. Es galt als Schwäche, nicht als Krankheit. Zwei Jahre später brachte sich Robert Enke um.
Martin Bengtsson wohnte damals nur ein paar Kilometer von unserer Redaktion entfernt, in einer kleinen Einzimmerwohnung in der Waldemarstraße, Berlin-Kreuzberg. Nichts deutete darauf hin, dass er mal angehender Fußballprofi bei Inter Mailand gewesen war. An den Wänden klebten Zeichnungen, Songtexte, Gedichte. In einem Regal standen Bücher von Noam Chomsky und Charles Bukowski, CDs von The National und Nirvana, auf dem Bett lag eine Gitarre. Er war nun also Künstler, so sahen wir das. Er selbst sagte: „Ich bin kein Künstler. Kein Musiker, kein Schreiber, kein Journalist, kein Maler.“ Er hatte Druck rausgenommen. Er hatte aufgehört, etwas sein zu wollen, und das, so erklärte er, fühlte sich gut an, so unperfekt, so frei, so menschlich.
Wir begleiteten Bengtsson ein paar Tage durch Berlin, Kaffee am Engelbecken, Abhängen am Kotti. Bengtsson sprach reflektiert und offen über seine Zeit in Mailand, auch über seine Depression und seine Therapie, die er immer noch machte. Am Ende besuchten wir eines seiner Konzerte. In einer kleinen Bar in Kreuzberg spielte er Gitarre und sang in einem Kostüm, das aussah wie aus der Garderobe von David Bowie. Eine Freundin malte dazu. Einiges war einstudiert, anderes wirkte improvisiert. Er spielte auch einen Song namens „Mental Hospital“, den in seinen letzten Tagen in Mailand geschrieben hatte, auf der Akademie. Er sang: „Keep all the demons away.“
Seine Biografie wurde als Theaterstück adaptiert, sie erschien auf Deutsch und Englisch, wurde Schullektüre, größere Medien berichteten, und irgendwann zog Bengtsson zurück nach Schweden. Nun also „Tigrar“, ein Spielfilm. Er basiert auch auf Bengtssons Buch, hat aber einige fiktive und freie Stränge. Es ist ein wirklich sehenswertes Bio-Pic, denn Regisseur Ronnie Sandahl (u.a. „Borg/McEnroe“) hat es geschafft, die schwere und düstere Geschichte behutsam und unaufgeregt zu inszenieren. Leise Bilder und Dialoge statt lautem Pathos.
Martin Bengtsson als Spieler der schwedischen U‑17-Nationalmannschaft.
Vordergründig ist „Tigrar“ ein Coming-of-age-Drama über einen Jungen, der aufbricht, um groß rauszukommen – und auf dieser Reise einiges über sich lernt. Aber es ist auch eine fundierte Kritik an einer Traumwelt, die sehr aktuell ist. Die Geschichte leuchtet die Schattenseiten einer milliardenschweren Fußballindustrie voller Versprechungen aus. Sie erzählt von autoritären Nachwuchstrainern und rücksichtslosen Vereinspatronen, von Machtsystemen im Profifußball, die heute noch viel ausgeprägter und gefestigter sind als zu Bengtssons Zeiten bei Inter. Sie zeigt den Druck und die Angst der Heranwachsenden, die beinahe entmenschlicht, als Konkurrenten und Humankapital, durch eine unwirkliche Szenerie geistern. Wer in dieser vermeintlich perfekten Welt nicht funktioniert, wird aussortiert und ersetzt.