Da waren sie wieder. Die Geister der Vergangenheit, die er doch eigentlich abgeschüttelt zu haben glaubte. Und diesmal war die ganze Welt Zeuge einer erneut gruseligen Metamorphose des ghanaischen Kapitäns. Samuel Osei Kuffour hatte Italiens Vincento Iaquinta den Ball durch einen verunglückten Rückpass zentimetergenau in den Lauf gespielt. Sieben Minuten vor dem Ende führten die Italiener mit 2:0. Die Entscheidung. Kuffours Mimik wirkte wie ausradiert. Wenige Minuten zuvor hatte es sich bereits angekündigt, dass die Vorrundenpartie der WM 2006 zwischen Ghana und Italien wieder eines dieser Spiele werden würde, in denen Kuffours Nerven scheinbar völlig grundlos den Dienst quittieren. Denn eigentlich hätte Sammy Kuffour in dieser 83. Minute gar nicht mehr auf dem Feld stehen dürfen. Kuffour hatte den späteren Torschützen Iaquinta völlig übermotiviert und rücksichtslos von den Beinen geholt. Doch die Gnade des Schiedsrichters erwies sich für Kuffour nur als Vorspiel zur finalen Folter. Kuffour hatte das Spiel verloren. Ganz alleine. Völlig aufgelöst entschuldigte er sich nach dem Abpfiff bei seinen Landsleuten. Dann verschwand er in den Katakomben der AWD-Arena. Und eigentlich ist er danach nie wieder richtig aufgetaucht. Sein erstes und gleichzeitig letztes WM-Spiel war auch der schiefe Schlussakkord seiner Karriere.
Nach der WM 2006 hat sich Samuel Kuffour aus dem Blickfeld des Weltfußballs geschlichen. Einfach so. Durch die Hintertür. Der Fehltritt gegen Italien war sein letzter großer Auftritt. Und irgendwie passte es zu Kuffour, dass dieser Auftritt ein erst haarsträubendes und dann tränenreiches Deja-Vu war. Denn Momente wie dieser haben ihn stets begleitet.
An guten Tagen, das haben sie in München immer wieder betont, gab es kaum einen Verteidiger in der Bundesliga, der ein ähnliches Niveau zu erreichen vermochte wie Kuffour. Nur war er eben auch ein ungestümer Emotionsfußballer. Und so vergingen die guten Tage immer so schnell. Es folgte das nächste Spiel, in dem Kuffour, Sekunden vorher noch fröhlich lächelnd, wie aus dem Nichts in eine Art destruktive Trance fiel. Kuffours Slapstickliste ist ebenso lang wie gespenstisch. Er hat Kahn ausgeknockt und Paulo Sergio mit unkontrolliertem Martial Arts das Becken verrenkt.
Das große Rätsel
Während einer Niederlage der Bayern gegen Schalke vollbrachte er sogar einmal das Kunststück, am Hattrick seines Gegenspielers Ebbe Sand größeren Anteil gehabt zu haben als Sand selbst. Dazu kommen sechs Bundesliga-Platzverweise, die von diversen cholerischen Anfällen berichten.
In München haben sie sich stets gewundert über die beiden Kuffours, die sie da im Kader hatten. Zum einen den zweikampfstarken und souveränen Kapitän der ghanaischen Nationalelf für den der FC Barcelona sogar bereit gewesen wäre etwa 18 Millionen Euro auf den Tisch zu legen und dann aber eben auch seinen gemeingefährlichen Irrwitzklon mit dem zerborstenen Radar. Und so blieb Kuffour in seiner Zeit beim FC Bayern auch immer ein Rätsel.
Doch Kuffour litt keineswegs an fußballerischer Schizophrenie. Er hatte einfach eine unbändige Energie im Leib, die ihn zu zerreißen drohte, hätte er nicht hin und wieder selbst für ein Ventil sorgt. Doch im Gegensatz zu Lucio, seinem brasilianischen Nachfolger in der Münchner Innenverteidigung, ist es Kuffour nur selten gelungen, seine Kraft gewinnbringend zu kanalisieren.
Vieles deutet darauf hin, dass der Ursprung seines Motorik-Sekundenschlafs und vor allen Dingen der steten Rastlosigkeit, die all diese Ausfälle begünstigte, am Anfang seiner Karriere zu suchen ist. Denn Kuffour musste sich aufgrund seiner fußballerischen Hochbegabung und der für afrikanische Talente typischen körperlichen Frühreife schon früh immer größer machen, als er wirklich war. Mit 14 nahm er bereits an der U17-Weltmeisterschaft teil. Mit 17 hatte er seine Heimat verlassen und sich der Herausforderung Europa gestellt. Über den Umweg AC Turin kam er noch als Minderjähriger ins Internat des FC Bayern.
Der unbemerkte Kollateralschaden des FC Hollywood
Kuffour war zu diesem Zeitpunkt, wenn auch nicht äußerlich, noch ein halbes Kind. Es fällt nicht besonders schwer, sich vorzustellen, wie dieser Junge aus Ghana in München gegen die Wand aus Blitzlichtern und Erfolgsdruck gelaufen sein muss. Zwischen all den Topstars, im Windkanal der Münchner Presse und der Einflugschneise des allmächtig glänzenden Franz Beckenbauer wirkte er dabei immer so verloren wie ein Konfirmand auf einem Herrenabend mit Stripperin. Das frühkindliche Stadium seiner Karriere verlebte Kuffour an der Säbener Straße zudem in einem von Krisen, Missgunst und moderner Vanitas geschüttelten Umfeld. Und so ist Kuffour eigentlich der unbemerkte Kollateralschaden des FC Hollywood. Weil Spieler wie Matthäus zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um den noch unfertigen Kuffour väterlich an der Hand zu nehmen.
Hinzu kommt, dass der Wechsel nach Europa den jungen Kuffour radikal entwurzelt hat.
In München lebte er eine dauerhafte Hotelexistenz. Rastlose Rotation inklusive. Besonders nach seiner Beförderung zu den Profis blieb er so mitten unter Menschen isoliert. Sein einziger Bezugspunkt wurde Karin Potthoff, die Sekretärin von Uli Hoeneß, die sich um ihn gekümmert hatte, seit er mit 16 ins Bayern-Internat kam, und die er bis zu seinem Abschied in München immer noch liebevoll „Mom“ rief. Ansonsten irrlichterte Kuffour rastlos durch den Münchner Schickeriazirkus.
All das wird unweigerlich Wachstumsstreifen auf seiner Psyche hinterlassen haben, die dazu führten, dass Kuffour in einem postpubertären Aggregatszustand erstarrte. Seine Aussetzer waren deshalb sowohl Ausdruck einer kindlichen Verspieltheit als auch Spiegelbild seiner privaten Orientierungslosigkeit. Kuffour war der hyperaktive Außenseiter im Kindergarten Bundesliga, der nichts für den Schaden konnte, den er anrichtete. Auch das wussten sie in München, deshalb haben sie ihn immer wieder in Schutz genommen.
Glückliche Tage an der Seite Francesco Tottis
Und trotzdem ist Kuffour in München nie wirklich zur Ruhe gekommen. Auch weil er an der Isar elf manisch-depressive Jahre erlebt hat. Kaum ein Spieler der Bundesliga hat mehr Titel geholt als Kuffour. Er hat im Nou Camp geweint und Bayern zum Weltpokalsieger gemacht. Und auch die schwerste Stunde seines Lebens durchlitt er in dieser Zeit. 2003 war seine Tochter in Ghana in einem Swimmingpool ertrunken. Doch schon vor diesem schweren Schicksalsschlag wirkte Kuffour in München immer irgendwie, als müsse er zwanghaft eine tiefe Traurigkeit überstrahlen. Wirklich angekommen ist er dort nie so richtig. Auch deshalb wechselte er 2005 schließlich zum AS Rom.
In Rom sah es dann auch zunächst danach aus, als würde Kuffour hier doch noch seinen Ruhepuls finden. Die Fans feierten ihn nach den ersten Spielen bereits als Inkarnation der brasilianischen Ikone Aldair. Und Kuffour sprach von glücklichen Tagen an der Seite Francesco Tottis. Nur vergehen die schönen Tage des Sammy Kuffour eben immer so schnell. Schon nach 21 Spielen wurde Kuffour eingeholt von seinem eigenen wirren Schatten. Und in den römischen Gazetten fiel der Name Aldair nur noch in melancholischen Zeitblenden in die 90er Jahre. Kuffour wurde erst nach Livorno abgeschoben und dann nach Amsterdam verkauft. Eine erneut rastlose Tingeltour ohne Aussicht auf ein stilles Ende.
In diesem Sommer wäre Kuffour dann fast beim FK Chimki gelandet. Dem Tabellenletzten der russischen Liga. Das Ende im Verbannungskasten hat er sich jedoch selbst erspart. Kuffour ist zurück nach Ghana gegangen und hat seine Karriere beendet. Damit beginnt für ihn der fußballerische Ruhestand. Kuffour ist endlich angekommen. Zu Hause.