Heute ist Derby in Liverpool! Von Evertons Goodison Park sind es 900 Meter bis nach Anfield. Wir liefen die Strecke ab. Und lernten auf dem Weg Priester, Trinker, Friseurinnen und Soldaten kennen.
Der Text erschien erstmals im Juni 2015 in der Ausgabe 11FREUNDE #163, die hier im Shop erhältlich ist.
Schwarze Buchstaben sind in der roten Backsteinwand eingemauert. Sie ergeben den Schriftzug: Everton Football Club. Dahinter erhebt sich der Goodison Park, das Stadion des Everton FC. Aiden McGee, ein neunjähriger Junge, fährt mit einem Tretroller die Mauer entlang. Welcher Verein? Er sagt nichts, sondern zeigt nur nach links auf die andere Seite. Auf eine Tribüne hinter dem Park. Dort erhebt sich Anfield, das Stadion des Liverpool FC.
Und deine Eltern? Er zeigt nach rechts über die Backsteinmauer. Goodison, Everton. Die Mutter lächelt. Der Sohn werde von den Verwandten mit Everton-Shirts überhäuft, sagt sie, er habe dort gar ein Probetraining absolviert. Aiden schüttelt den Kopf, keine Chance, Liverpools Stürmer Daniel Sturridge ist sein Idol. Er zeigt wieder hinüber: „Ich werde Profi bei den Reds. Und dann kaufe ich meinen Eltern ein Cabrio.“ Noch muss er sich mit dem Tretroller begnügen und kurvt los, durch seine Heimat, eine Nachbarschaft mit zwei ruhmreichen Vereinen aus der Premier League.
Die Stadien liegen gerade einmal 900 Meter Luftlinie voneinander entfernt. Dazwischen der Stanley Park, als Pufferzone. Der Fußweg zwischen beiden Arenen entlang der Straßen dauert etwas länger als eine Viertelstunde. Everton spielte Ende des 19. Jahrhunderts zunächst in Anfield, nach Streitigkeiten unter anderem um die Pacht zog der Verein aber gegenüber in den Goodison Park. Der Geschäftsmann John Houlding gründete daher den Liverpool FC in Anfield. Es war der Beginn einer besonderen Beziehung. Um es mit Bill Shankly, dem großen Liverpooler Trainer und nicht minder begabten Aphoristiker, zu sagen: „Selbst wenn Everton in meinem Garten spielen würde, würde ich die Vorhänge zuziehen.“
Folklore oder Feindschaft? Wie fern sind sich zwei Vereine, die sich so nah stehen? Die Antworten liegen auf der Straße an einem Donnerstag, an dem kein Spiel hier oder dort stattfindet und keine Massen von außerhalb anreisen. Ein Rundgang zu den Anwohnern zwischen Goodison und Anfield.
Stacey Peers ist Friseurin in „Susan’s Salon“, rote Haare, rote Fingernägel, rotes Herz. Liverpool FC born and bred, sagt sie. In einen Verein hineingeboren und in seinem Sinne aufgezogen. Aber Everton kann sie nicht aus dem Weg gehen, das Stadion liegt auf der anderen Straßenseite.
Vor zehn Jahren, mit 23, hat sie zusammen mit einem gewissen Steven Gerrard einige Biere getrunken. „Ein guter Junge“, sagt sie nonchalant, als hätte dieser Steven sich jahrzehntelang irgendwo an den Docks und nicht im Mittelfeld ihres Herzensklubs abgerackert. Sie ist die einzige Mitarbeiterin von Susan Savage, einer älteren Lady mit längeren blondierten Haaren. Die Inhaberin ist Evertonian through and through, durch und durch.
Auf vielleicht fünfzehn Quadratmetern frisieren und bequatschen sie die Damen mit den Dauerwellen und die Herren mit den tätowierten Handgelenken, egal ob rot oder blau. Ein Waschen-Schneiden-Leben im Schatten der Tribüne. Sie kämen doch alle miteinander aus, fast so wie in einer Familie. Auf die Frage, warum das so sei, fällt dieses eine Wort. Hillsborough.
Am 15. April 1989 starben bei der Stadionkatastrophe von Hillsborough 96 Fans des Liverpool FC, die meisten waren noch Jugendliche, sie wurden zerquetscht und niedergetrampelt. Jeder hier – ob Fan von Everton oder Liverpool – verbindet seine eigene Geschichte mit dieser Tragödie. Die Trauer um Angehörige oder Freunde schweißte sie zusammen, aber auch der Kampf danach. Polizei, Politik und Boulevardmedien gaben den Opfern die Schuld. Es war ein langer Weg, bis die Justiz den Fall Jahrzehnte später neu aufrollte und die Regierung sich entschuldigte.
Es ist die Last der Erinnerung, die Liverpools Bewohner gemeinsam schultern, aber es ist nicht die einzige. Draußen auf der Goodison Road, Sonnenstrahlen drängen durch die Stadionmauern. In den Nebenstraßen, die wie ein Meer aus Ziegelsteinen wirken, setzen sich die Einwohner in Trainingshose auf die Treppenstufen, in knochigen Händen brennen Zigaretten bis zum Filter.
Jugendliche jagen mit Cross-Maschinen vorbei, ansonsten Ruhe, heruntergelassene Jalousien, die Shops sind geschlossen. Sie öffnen nur an Spieltagen. Es fehlen Kaufkraft und Käufer. Zehntausende kommen zu den Spielen. Aber hier leben – nein danke. Die Barfrauen sagen, dass nur noch der Fußball die Pubs der Straßen am Leben halte – und das in England. Das ist so, als würden anderswo alle Bäckereien schließen. Ein Leichenwagen fährt vorbei, darin ein blauer Sarg mit dem Everton-Logo.
Ein Mann mit Lederjacke stapft den Weg entlang, das Haar gekräuselt und grau, der Bart nikotingelb. Welches Team er liebe? Er stellt sich auf wie beim Militärappell. Everton FC. Dann zeigt er am Stadion entlang.
Alan Ball, Howard Kendall, Colin Harvey – die holy trinity, das großartige Mittelfeldtrio aus den späten Sechzigern und frühen Siebzigern. Wer diese Jungs hat spielen sehen, musste Everton hemmungslos verfallen.
Der Mann heißt Bernie, und Umstehende riechen, dass er an diesem Vormittag schon Durst hatte. Die Gegend sei rough, rau, hart. Doch Bernies Augen strahlen voller Herzlichkeit, er kürt sich umgehend zum Reiseführer dieser Straßen. Er hat offenbar auch nicht mehr viele andere Termine. Zum letzten Mal im Stadion war er irgendwann in den Achtzigern mit seinem Bruder, der im Rollstuhl sitzt und um den er sich kümmert. Heute kann er es sich nicht mehr leisten, ins Stadion zu gehen.
Dabei läuft er von seiner Wohnung fünf Minuten nach Goodison, 15 nach Anfield. Er kann die Torjubel von beiden Teams hören, wenn er zu Hause das Fenster geöffnet hat. So nah, so fern. In der letzten Woche rief er beim Verein an. „Wenn einmal ein Ball von euch in meinem Garten landet, dann steche ich mit dem Messer rein.“ Aus Rache? „Nein, weil ich sauer bin, dass die Jungs wieder übers Tor geschossen haben.“ Bernie lacht kehlig. That’s Liverpool, sagt er.
Bernie zeigt auf eine Kirche neben dem Stadion, St Luke’s. Dort seien früher die Fans hinauf aufs Dach geklettert, um das Spiel zu sehen. Im Eingang steht ein junger Bauarbeiter mit Müslischale in der Hand. Sie ist rot. Liverpool? „Nein, bloß nicht, ich bin Evertonian. Aber meine Frau ist eine Rote, sie macht sich immer einen Spaß daraus, mir rote Sachen einzupacken. Total verrückt, sag ich euch.“
Sein Name ist Deano, nur Deano, das müsse reichen. Dann nähert sich ein Mann in einem blauen und weißen liturgischen Gewand. Colin Greene, der Lektor, ein Vorleser im Gottesdienst. Greene hat weiße Haare und ein weiches Gesicht.
Genau wie alle anderen stellt er zu allererst die wichtigste Frage: „Welches Team unterstützt ihr?“ Der Fotograf ist Engländer und Fan von Manchester City. Der Lektor verzieht den Mund, als hätte er sich die Lippen verbrannt. „Man United hat euch ganz schön abgeschossen, nicht wahr?“ Bernie, immer noch daneben, sagt: „Herr Pfarrer, Sie dürfen nicht auf einen Mann treten, der am Boden liegt. Das sollten gerade Sie wissen.“ Bernie lacht laut.
Der Lektor führt durch das Gemeindehaus, hinein in den Garten, zur Ruhestätte der Fans. Früher ließen sie ihre Asche auf dem Rasen verteilen, nun im Garden of Remembrance. Die Kirche liegt direkt an der Tribüne. Im zweiten Stock des Gemeindehauses stapeln sich meterhoch alte Fanzines und Programmhefte, die heiligen Schriften des Fußballs.
Bei der Verabschiedung tritt Deano, der Bauarbeiter, noch einmal nach vorne. Er hat die Müslischüssel gegen die Bohrmaschine eingetauscht. „Ihr geht nach Anfield? Dann passt auf eure Kamera auf.“ Deano und Bernie schütteln sich vor Lachen.
1985: Beim Spiel zwischen Everton und QPR klettern Fans von der Kirche aus ins Stadion.
Ein beliebtes Klischee in England besagt, dass nirgendwo so viel geklaut und eingebrochen wird wie in Liverpool. Bei einem Werbeshooting des Vereins vor dem Stadion nahmen einmal Straßengangs Jagd auf das Equipment. Unter den zehn ärmsten Gemeinden des Landes befanden sich 2012 allein fünf aus Liverpool, darunter auch Anfield als drittärmste.
Der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsstadt fand vor allem im Zentrum statt, Bezirke wie Anfield oder Everton hingegen wirken, als hätte sich seit den achtziger Jahren nichts getan. Damals versank die Stadt in der Massenarbeitslosigkeit, ihre Wut projizierten die Arbeiter auf Premierministerin Margaret Thatcher.
Sie kämpfte gegen die Gewerkschaften und Bergleute. Ihre Minister rieten zu einem „geordneten Verfall“ von Liverpool. In der Stadt sind sie zudem der Meinung, die „Eiserne Lady“ habe die Lügen der Polizei nach der Hillsborough-Katastrophe gedeckt. Nach Thatchers Tod 2013 eroberte ein Lied aus dem Film „Der Zauberer von Oz“ die Charts, die Stadionränge und die spontanen Feiern in den Straßen: Ding! Dong! The witch is dead. Die Hexe ist tot.
Es ist die Last der Demütigung aus dem Süden Englands, die sie hier noch tragen. Auch das schweißt zusammen. Die Menschen in Liverpool, ob rot oder blau, pflegen eher eine abgrundtiefe Abneigung gegenüber dem Establishment in London als gegenüber dem Lokalrivalen.
Früher sind sie sogar mal nach Goodison, mal nach Anfield gegangen, zusammen. Heute reicht das Geld nicht einmal für einen einzigen Stadionbesuch.
„Der Verein will uns doch nicht, die wollen eher die Norweger, die Japaner“, sagt Billy Jones. „Warum? Ganz einfach: Wir gehen ins Stadion und saufen danach vielleicht ein paar Pints. Die Leute aus dem Rest der Welt kaufen den Fanshop leer.“ Er trägt Kapuzenpulli, Jogginghose und Turnschuhe. Liverpool uniform nennen sie das in England spöttisch. Jones raucht seine Zigarette in der hohlen Hand, er war jahrelang bei der Army. Seit vier Jahrzehnten kann er von seiner Wohnung auf das Stadion der Reds schauen.
Früher hatte er eine Dauerkarte, heute kostet die günstigste umgerechnet 910 Euro. Er schimpft auf die Preise, auf die Stimmung, auf die Klubbesitzer, bis er über sich selbst erschreckt und feststellt: „Versteht mich nicht falsch, ich liebe Liverpool.“ Jones klettert auf dem Bauschutt vor seiner Wohnung herum. Früher sei das hier eine gute Gegend gewesen, aber sie hätten die Häuser einfach verrotten lassen. Sie, damit seien die Leute von der Stadt gemeint. Und wer weiß, wer noch da mit drin hänge. Er sagt es nicht, doch: Sie, das kann auch ein Verein sein. Der eigene Verein. Der Liverpool FC.
Der „Guardian“ berichtete 2013, dass sich der Klub seit den neunziger Jahren über einen Drittmakler ganze Straßenzüge rund um das Stadion gesichert habe. Der Grund: Der Liverpool FC wollte sein Stadion ausbauen. Statt aber mit den Anwohnern zu reden, wählte der Verein einen anderen Weg: Dem Bericht zufolge ließ er die leerstehenden Häuser absichtlich verfallen und vertrieb damit andere Anwohner. Am Ende seien die Gebäude auf Betreiben des Klubs abgerissen worden. Momentan arbeitet der LFC an dem Anbau einer Tribüne.
Die Fans in der Gegend haben einen gierigen Nachbarn: ihr eigener, innig geliebter Klub. Im vergangenen Jahr erzielte Liverpool Einnahmen in Höhe von 357 Millionen Euro. Die Kinder auf den Tretrollern aus der Gegend sehen ihre Idole wie Daniel Sturridge live und wahrhaftig eben nur im Cabrio vorbeifahren, nicht im Trikot auf dem Rasen vorbeilaufen. Das verändert den Traum vom Profifußball.
Not und Eleganz sind in Anfield nur einen Kurzpass voneinander entfernt. Im gesamten Straßenzug vor der Tribüne sind an normalen Arbeitstagen die Shops verriegelt. Verblasste Schriftzüge von Imbissen, Tattoo- und Nagelstudios, an einem Spirituosen-Laden hängen Screenshots der Überwachungskameras. An einem Hauseingang wurden die genoppten Bordsteine für Blinde an Ampelübergängen verbaut. Diese Materialien sind – um es so zu sagen – nicht käuflich zu erwerben.
Eileen Snell lächelt, als sie von einem Gespräch mit einem japanischen Liverpool-Fan erzählt. „Sie fragte mich: Das alles hier – ist das wegen des Krieges?“ Seit 40 Jahren lebt sie in der Straße direkt neben dem Stadion von Liverpool, in der Skerries Road, deren Häuser mittlerweile auch dem Verein gehören. Ihr Garten grenzt an das Stadiongelände.
Doch Eileen Snell, eine Großmutter mit blondierten Haaren, ist Fan von Everton. Zu den Spielen der Blauen kommen ihre Söhne und Enkelkinder, sie macht dann Sandwiches. Am Küchenschrank hängt der Spielplan. Ihr Mann starb sehr jung an einem Herzinfarkt, auf dem Sofa ihrer Wohnung. „Er kam gerade vom Everton-Spiel. Da sieht man, was der Verein aus einem macht.“
Snell lächelt sanft. In dieser Stadt kann die Arbeitskleidung nicht schweißnass und der Humor nicht trocken genug sein.
Ihre Haustür ist rot, das war schon vor ihrem Einzug so. Nebenan wohnen Liverpool-Fans, die Ellisons, hinter einer blauen Tür. Noch einmal eine skurrile Note in dieser ohnehin skurrilen Nachbarschaft. Beide Klubs können nicht ohne einander. Sie tragen gemeinsam zu viel auf den Schultern, um sich voneinander zu lösen. Die Rivalität besteht vor allem aus dem banter, den Sticheleien und Scherzen – wie unter Geschwistern. Der Everton-Fanshop im Bezirk heißt beispielsweise „Everton One“, nur damit im Stadtzentrum „Everton Two“ entstehen konnte und sich die dortige Adresse wie ein Fußballergebnis liest: Liverpool One Everton Two.
Eileen Snell hört Evertons Spiele im Radio. Wenn ihr Team trifft, klopft sie laut an die Wand zu den Ellisons. Banter. Die Anhängerin der Blauen wohnt hinter einer roten Tür in einem Haus, das den Roten gehört. Und wenn Liverpool in ihrem Garten spielt, dann zieht sie eben die Vorhänge zu.
In ihrem Fenster hängt ein Bild von einem Jungen und einem Mädchen, sie tragen Trikots von Liverpool und Everton und auf ihrem Rücken die „96“. Sie weiß noch, wie es damals war. Nach Hillsborough kamen die Familien zum Stadion, in ihrer Trauer beweinten sie dort ihre Angehörigen. „Ich konnte ihre Schreie hören. Das werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Manchmal höre ich sie noch im Schlaf.“
„Du gehst zu einem Spiel und dann … Dann kommst du nicht mehr nach Hause.“
Hinter ihrem Garten, an der Tribüne des Liverpooler Stadions ist das Hillsborough Memorial. Paul Cassidys Augen sind gerötet. Er schaut an seinem Gegenüber vorbei ins Leere. Der Körper des kleinen, rundlichen Mannes arbeitet, er wippt von einem Fuß auf den anderen, er klammert sich an dem Griff der Einkaufstüte von Marks & Spencer fest. Die Augen wandern zur Gedenkplakette. Blumensträuße, Gebinde, Schals, Kinderzeichnungen. Cassidy pustet aus, mehrmals, er braucht Luft, weil die Erinnerung den Hals zuschnürt. „Stell dir das mal vor“, sagt er dann. „Stell es dir vor. Fußball, die Sache, die du so liebst. Du gehst zu einem Spiel und dann …“ Kopfschütteln. Heftigeres Kopfschütteln. „Dann kommst du nicht mehr nach Hause.“
Cassidy trägt ein Trikot. Auf den Rücken ist kein Spielername geflockt, sondern das Wort „Remembering“, darunter die Zahl „96“ und statt eines Vereinsnamens ist „Y.N.W.A.“ zu lesen, die Initialen des berühmten Liverpooler Fangesangs „You’ll Never Walk Alone„. Als er sich vor die Gedenkstätte stellt, um innezuhalten, drehen sich die Leute um, manche Umstehende machen Fotos. Denn Cassidys Trikot ist nicht rot, sondern blau. Es ist das Trikot von Everton.