Heute ist Derby in Liverpool! Von Evertons Goodison Park sind es 900 Meter bis nach Anfield. Wir liefen die Strecke ab. Und lernten auf dem Weg Priester, Trinker, Friseurinnen und Soldaten kennen.
Ihre Haustür ist rot, das war schon vor ihrem Einzug so. Nebenan wohnen Liverpool-Fans, die Ellisons, hinter einer blauen Tür. Noch einmal eine skurrile Note in dieser ohnehin skurrilen Nachbarschaft. Beide Klubs können nicht ohne einander. Sie tragen gemeinsam zu viel auf den Schultern, um sich voneinander zu lösen. Die Rivalität besteht vor allem aus dem banter, den Sticheleien und Scherzen – wie unter Geschwistern. Der Everton-Fanshop im Bezirk heißt beispielsweise „Everton One“, nur damit im Stadtzentrum „Everton Two“ entstehen konnte und sich die dortige Adresse wie ein Fußballergebnis liest: Liverpool One Everton Two.
Eileen Snell hört Evertons Spiele im Radio. Wenn ihr Team trifft, klopft sie laut an die Wand zu den Ellisons. Banter. Die Anhängerin der Blauen wohnt hinter einer roten Tür in einem Haus, das den Roten gehört. Und wenn Liverpool in ihrem Garten spielt, dann zieht sie eben die Vorhänge zu.
In ihrem Fenster hängt ein Bild von einem Jungen und einem Mädchen, sie tragen Trikots von Liverpool und Everton und auf ihrem Rücken die „96“. Sie weiß noch, wie es damals war. Nach Hillsborough kamen die Familien zum Stadion, in ihrer Trauer beweinten sie dort ihre Angehörigen. „Ich konnte ihre Schreie hören. Das werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Manchmal höre ich sie noch im Schlaf.“
„Du gehst zu einem Spiel und dann … Dann kommst du nicht mehr nach Hause.“
Hinter ihrem Garten, an der Tribüne des Liverpooler Stadions ist das Hillsborough Memorial. Paul Cassidys Augen sind gerötet. Er schaut an seinem Gegenüber vorbei ins Leere. Der Körper des kleinen, rundlichen Mannes arbeitet, er wippt von einem Fuß auf den anderen, er klammert sich an dem Griff der Einkaufstüte von Marks & Spencer fest. Die Augen wandern zur Gedenkplakette. Blumensträuße, Gebinde, Schals, Kinderzeichnungen. Cassidy pustet aus, mehrmals, er braucht Luft, weil die Erinnerung den Hals zuschnürt. „Stell dir das mal vor“, sagt er dann. „Stell es dir vor. Fußball, die Sache, die du so liebst. Du gehst zu einem Spiel und dann …“ Kopfschütteln. Heftigeres Kopfschütteln. „Dann kommst du nicht mehr nach Hause.“
Cassidy trägt ein Trikot. Auf den Rücken ist kein Spielername geflockt, sondern das Wort „Remembering“, darunter die Zahl „96“ und statt eines Vereinsnamens ist „Y.N.W.A.“ zu lesen, die Initialen des berühmten Liverpooler Fangesangs „You’ll Never Walk Alone„. Als er sich vor die Gedenkstätte stellt, um innezuhalten, drehen sich die Leute um, manche Umstehende machen Fotos. Denn Cassidys Trikot ist nicht rot, sondern blau. Es ist das Trikot von Everton.