Heute ist Derby in Liverpool! Von Evertons Goodison Park sind es 900 Meter bis nach Anfield. Wir liefen die Strecke ab. Und lernten auf dem Weg Priester, Trinker, Friseurinnen und Soldaten kennen.
„Der Verein will uns doch nicht, die wollen eher die Norweger, die Japaner“, sagt Billy Jones. „Warum? Ganz einfach: Wir gehen ins Stadion und saufen danach vielleicht ein paar Pints. Die Leute aus dem Rest der Welt kaufen den Fanshop leer.“ Er trägt Kapuzenpulli, Jogginghose und Turnschuhe. Liverpool uniform nennen sie das in England spöttisch. Jones raucht seine Zigarette in der hohlen Hand, er war jahrelang bei der Army. Seit vier Jahrzehnten kann er von seiner Wohnung auf das Stadion der Reds schauen.
Früher hatte er eine Dauerkarte, heute kostet die günstigste umgerechnet 910 Euro. Er schimpft auf die Preise, auf die Stimmung, auf die Klubbesitzer, bis er über sich selbst erschreckt und feststellt: „Versteht mich nicht falsch, ich liebe Liverpool.“ Jones klettert auf dem Bauschutt vor seiner Wohnung herum. Früher sei das hier eine gute Gegend gewesen, aber sie hätten die Häuser einfach verrotten lassen. Sie, damit seien die Leute von der Stadt gemeint. Und wer weiß, wer noch da mit drin hänge. Er sagt es nicht, doch: Sie, das kann auch ein Verein sein. Der eigene Verein. Der Liverpool FC.
Der „Guardian“ berichtete 2013, dass sich der Klub seit den neunziger Jahren über einen Drittmakler ganze Straßenzüge rund um das Stadion gesichert habe. Der Grund: Der Liverpool FC wollte sein Stadion ausbauen. Statt aber mit den Anwohnern zu reden, wählte der Verein einen anderen Weg: Dem Bericht zufolge ließ er die leerstehenden Häuser absichtlich verfallen und vertrieb damit andere Anwohner. Am Ende seien die Gebäude auf Betreiben des Klubs abgerissen worden. Momentan arbeitet der LFC an dem Anbau einer Tribüne.
Die Fans in der Gegend haben einen gierigen Nachbarn: ihr eigener, innig geliebter Klub. Im vergangenen Jahr erzielte Liverpool Einnahmen in Höhe von 357 Millionen Euro. Die Kinder auf den Tretrollern aus der Gegend sehen ihre Idole wie Daniel Sturridge live und wahrhaftig eben nur im Cabrio vorbeifahren, nicht im Trikot auf dem Rasen vorbeilaufen. Das verändert den Traum vom Profifußball.
Not und Eleganz sind in Anfield nur einen Kurzpass voneinander entfernt. Im gesamten Straßenzug vor der Tribüne sind an normalen Arbeitstagen die Shops verriegelt. Verblasste Schriftzüge von Imbissen, Tattoo- und Nagelstudios, an einem Spirituosen-Laden hängen Screenshots der Überwachungskameras. An einem Hauseingang wurden die genoppten Bordsteine für Blinde an Ampelübergängen verbaut. Diese Materialien sind – um es so zu sagen – nicht käuflich zu erwerben.
Eileen Snell lächelt, als sie von einem Gespräch mit einem japanischen Liverpool-Fan erzählt. „Sie fragte mich: Das alles hier – ist das wegen des Krieges?“ Seit 40 Jahren lebt sie in der Straße direkt neben dem Stadion von Liverpool, in der Skerries Road, deren Häuser mittlerweile auch dem Verein gehören. Ihr Garten grenzt an das Stadiongelände.
Doch Eileen Snell, eine Großmutter mit blondierten Haaren, ist Fan von Everton. Zu den Spielen der Blauen kommen ihre Söhne und Enkelkinder, sie macht dann Sandwiches. Am Küchenschrank hängt der Spielplan. Ihr Mann starb sehr jung an einem Herzinfarkt, auf dem Sofa ihrer Wohnung. „Er kam gerade vom Everton-Spiel. Da sieht man, was der Verein aus einem macht.“
Snell lächelt sanft. In dieser Stadt kann die Arbeitskleidung nicht schweißnass und der Humor nicht trocken genug sein.