Heute ist Derby in Liverpool! Von Evertons Goodison Park sind es 900 Meter bis nach Anfield. Wir liefen die Strecke ab. Und lernten auf dem Weg Priester, Trinker, Friseurinnen und Soldaten kennen.
Der Mann heißt Bernie, und Umstehende riechen, dass er an diesem Vormittag schon Durst hatte. Die Gegend sei rough, rau, hart. Doch Bernies Augen strahlen voller Herzlichkeit, er kürt sich umgehend zum Reiseführer dieser Straßen. Er hat offenbar auch nicht mehr viele andere Termine. Zum letzten Mal im Stadion war er irgendwann in den Achtzigern mit seinem Bruder, der im Rollstuhl sitzt und um den er sich kümmert. Heute kann er es sich nicht mehr leisten, ins Stadion zu gehen.
Dabei läuft er von seiner Wohnung fünf Minuten nach Goodison, 15 nach Anfield. Er kann die Torjubel von beiden Teams hören, wenn er zu Hause das Fenster geöffnet hat. So nah, so fern. In der letzten Woche rief er beim Verein an. „Wenn einmal ein Ball von euch in meinem Garten landet, dann steche ich mit dem Messer rein.“ Aus Rache? „Nein, weil ich sauer bin, dass die Jungs wieder übers Tor geschossen haben.“ Bernie lacht kehlig. That’s Liverpool, sagt er.
Bernie zeigt auf eine Kirche neben dem Stadion, St Luke’s. Dort seien früher die Fans hinauf aufs Dach geklettert, um das Spiel zu sehen. Im Eingang steht ein junger Bauarbeiter mit Müslischale in der Hand. Sie ist rot. Liverpool? „Nein, bloß nicht, ich bin Evertonian. Aber meine Frau ist eine Rote, sie macht sich immer einen Spaß daraus, mir rote Sachen einzupacken. Total verrückt, sag ich euch.“
Sein Name ist Deano, nur Deano, das müsse reichen. Dann nähert sich ein Mann in einem blauen und weißen liturgischen Gewand. Colin Greene, der Lektor, ein Vorleser im Gottesdienst. Greene hat weiße Haare und ein weiches Gesicht.
Genau wie alle anderen stellt er zu allererst die wichtigste Frage: „Welches Team unterstützt ihr?“ Der Fotograf ist Engländer und Fan von Manchester City. Der Lektor verzieht den Mund, als hätte er sich die Lippen verbrannt. „Man United hat euch ganz schön abgeschossen, nicht wahr?“ Bernie, immer noch daneben, sagt: „Herr Pfarrer, Sie dürfen nicht auf einen Mann treten, der am Boden liegt. Das sollten gerade Sie wissen.“ Bernie lacht laut.
Der Lektor führt durch das Gemeindehaus, hinein in den Garten, zur Ruhestätte der Fans. Früher ließen sie ihre Asche auf dem Rasen verteilen, nun im Garden of Remembrance. Die Kirche liegt direkt an der Tribüne. Im zweiten Stock des Gemeindehauses stapeln sich meterhoch alte Fanzines und Programmhefte, die heiligen Schriften des Fußballs.
Bei der Verabschiedung tritt Deano, der Bauarbeiter, noch einmal nach vorne. Er hat die Müslischüssel gegen die Bohrmaschine eingetauscht. „Ihr geht nach Anfield? Dann passt auf eure Kamera auf.“ Deano und Bernie schütteln sich vor Lachen.
1985: Beim Spiel zwischen Everton und QPR klettern Fans von der Kirche aus ins Stadion.
Ein beliebtes Klischee in England besagt, dass nirgendwo so viel geklaut und eingebrochen wird wie in Liverpool. Bei einem Werbeshooting des Vereins vor dem Stadion nahmen einmal Straßengangs Jagd auf das Equipment. Unter den zehn ärmsten Gemeinden des Landes befanden sich 2012 allein fünf aus Liverpool, darunter auch Anfield als drittärmste.
Der Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsstadt fand vor allem im Zentrum statt, Bezirke wie Anfield oder Everton hingegen wirken, als hätte sich seit den achtziger Jahren nichts getan. Damals versank die Stadt in der Massenarbeitslosigkeit, ihre Wut projizierten die Arbeiter auf Premierministerin Margaret Thatcher.
Sie kämpfte gegen die Gewerkschaften und Bergleute. Ihre Minister rieten zu einem „geordneten Verfall“ von Liverpool. In der Stadt sind sie zudem der Meinung, die „Eiserne Lady“ habe die Lügen der Polizei nach der Hillsborough-Katastrophe gedeckt. Nach Thatchers Tod 2013 eroberte ein Lied aus dem Film „Der Zauberer von Oz“ die Charts, die Stadionränge und die spontanen Feiern in den Straßen: Ding! Dong! The witch is dead. Die Hexe ist tot.
Es ist die Last der Demütigung aus dem Süden Englands, die sie hier noch tragen. Auch das schweißt zusammen. Die Menschen in Liverpool, ob rot oder blau, pflegen eher eine abgrundtiefe Abneigung gegenüber dem Establishment in London als gegenüber dem Lokalrivalen.
Früher sind sie sogar mal nach Goodison, mal nach Anfield gegangen, zusammen. Heute reicht das Geld nicht einmal für einen einzigen Stadionbesuch.