Zur Halbzeit lagen die Spurs am Boden, waren eigentlich aus der Champions League ausgeschieden. Dann kam die zweite Hälfte. Dann kam Lucas Moura.
Und Harry Kane rannte. Rannte los, über den Rasen der Johan-Cruyff-Aren, als gäbe es kein morgen, als wären nicht mehrere Bänder in seinem Knöchel zerfetzt. Als hätte Tottenham Hotspur gerade das Champions-League-Finale erreicht. Auf seinem Weg schrie er Mauricio Pochettino seine Freude ins Gesicht, stoppte kurz bei Heung-Min Son, strich im Vorbeilaufen dem humpelnden Victor Wanyama über den Kopf.
Doch sein eigentliches Ziel lag mit dem Rücken auf dem Rasen, die Hände vor dem Gesicht, unter einem Haufen seiner Mitspieler begraben. Lucas Moura hatte da vermutlich noch gar nicht begriffen, dass er gerade eine neue Zeitrechnung geschaffen hatte: Nie zuvor stand Tottenham im größten Finale des europäischen Klubfußballs. Harry Kane hingegen muss gewusst haben, dass der schmächtige Brasilianer mit der Nummer 27 gerade seinen Job übernommen hatte. Den des Goalgetters, des Hoffnungsträgers. Den des Vereinsheiligen.
Im Interview nach dem Spiel sagte ihr immer noch fassungsloser Trainer Mauricio Pochettino: „Alle meine Spieler sind Helden. Doch er ist ein Superheld.“ Dann überkamen ihn die Tränen.
Die Prophezeiung
Superhelden, so die landläufige Definition, haben übermenschliche Fähigkeiten. Zieht man dieses Charakteristikum heran, lag Pochettino genau richtig. Wie sonst hätte Lucas das Unmögliche möglich machen können?
Bereits nach dem 0:1 im Hinspiel gegen ein ekstatisches Ajax schien die ausgelaugte Tottenham-Truppe ausgeschieden. Nach dem Rückstand in der 4. Minute des Rückspiels verfestigte sich dieser Eindruck, eine halbe Stunde später meißelte Hakim Ziyech ihn per Innenrist zusammen mit dem 0:2 in Stein. Scheinbar.
Tottenham hatte in der ersten Halbzeit nicht viel zu melden. Die Prophezeiung, dass die Mannschaft das Fehlen Kanes nicht auffangen könne, schien sich zu bewahrheiten. Heung-Min Son verrannte sich auf seiner linken Seite mit beeindruckender Regelmäßigkeit in erfolglosen Dribblings, Dele Alli lamentierte und schob Pässe ins Nichts. Christian Eriksen flankte ein ums andere Mal verzweifelt auf die Köpfe der Ajax-Verteidiger, als könne er Kane per okkultem Ritual in den Strafraum beschwören, wenn er es nur oft genug versuche. Mit dem Halbzeitpfiff waren die Spurs erledigt.
Dann kam die zweite Hälfte. Dann kam Lucas Moura.
Tottenham hat in den vergangenen beiden Transferperioden keine neuen Spieler nach London geholt, die Spurs investieren traditionell sehr vorsichtig, zusätzlich belastet der überfällige Stadionneubau die Vereinskasse. Der Kader ist für den Fleischwolf Premier League schon knapp kalkuliert, mit der Champions-League-Belastung fast fahrlässig dünn.
Aber manchmal braucht es womöglich keine Neueinkäufe: Der letzte Spurs-Transfer stammt vom 31. Januar 2018. Für knapp 28 Millionen Euro wechselte Lucas von Paris Saint-German an die White Heart Lane.
In der französischen Hauptstadt war er nie wirklich glücklich geworden. Zwar spielte er regelmäßig, nachdem er 2012 im Alter von 19 Jahren zum damaligen Rekordtransfer aufstieg, doch zum Star wurde er nie. Gleichzeitig gingen die Karrieren vieler seiner Kollegen aus der brasilianischen U20, die 2011 Südamerikameister wurde, steil durch die Decke. Casemiro, Coutinho, Willian, Oscar. Neymar. Spätestens mit dessen Ankunft war für Lucas in Paris kein Platz mehr. Auf dem Feld und in den Vorgaben des Financial Fairplay. Außerdem wurde ihm vorgeworfen, er habe Interna aus der Kabine an die Medien herangetragen.
Zu Beginn seiner Laufbahn nannten sie ihn „Marcelinho“, wegen seiner optischen Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Freistoßspezialisten und der Ausbildung in einer von dessen Fußballschulen. Als Teenager entschied Lucas sich, dass er bei seinem eigenen Vornamen genannt werden wolle. Um seine eigene fußballerische Geschichte zu schreiben, ohne Vergleiche. Mit seinem Abschied von PSG und Neymar begann der Hauptteil. Gestern Abend stellte er mit seinen ersten drei Treffern in der K.o.-Phase der Champions League das bislang wichtigste Kapitel fertig.
Die Grenzen verschwimmen
Als er nach seinem Treffer zum entscheidenden 3:2 abdrehte, Richtung Eckfahne lief und sich zum Freudensprung in die Luft schraubte, schien es für einen kurzen Augenblick, als würde er einfach weiter gen Himmel steigen. Das Flutlicht zauberte einen weiß leuchtenden Schein um die verschwitzt glänzende Halbglatze. Für diesen einen Moment verschwammen die Grenzen zwischen Superheld und Fußballer. Ob mit oder ohne Cape – Hauptsache Übermensch.
Lange nach Abpfiff, nachdem er doch wieder gelandet war, lief Lucas, den Ball unter dem Arm, die Hand vorm Mund, den Blick gen Himmel über den Rasen der Amsterdamer Arena. So als habe er immer noch nicht ganz begriffen, was er da vollbracht hatte.